Gestern Abend wollte ich Tante Hertha eine zweite Chance geben. Das sollte man immer machen im Leben, zwei Chancen mindestens verdient alles und jeder. Aber solche Kalendersprüche kennen wir alle zur Genüge, nicht wahr? Deshalb gleich zum Sportlichen.
Mein erstes und bisher einziges Hertha-Spiel ging im Oktober 2009 über die Bühne. Damals spielten die Hauptstädter gegen den HSV, damals noch etwas weniger armselig als heute, und verloren 2:3. Ich kann mich an zwei Dinge gut erinnern: Ich verpasste 2-3 Tore wegen Bierseligkeit und fand das Spiel zwar ansprechend, konnte mich aber dennoch nicht dafür erwärmen fortan Hertha-Fan zu sein. Ich habe es versucht, ehrlich.
Nun also die zweite Gelegenheit gegen einen Verein, der mir komischerweise seit Jahren irgendwie ein bisschen am Herzen liegt - obwohl es eigentlich ein erbärmlich geführter und notorisch erfolgloser Verein ist: der 1. FC Köln. Wahrscheinlich lag es an Toni Polster, Held der Alpen und Liebhaber stilvoller Frisuren...
Dass das Stadion eine Pracht ist wusste ich bereits. Hier aber nochmals der Beweis für Ungläubige:
Das ist, was man gemeinhin mit dem Begriff Eleganz bezeichnet. Und die Tatsache, dass die Leichtathletik-Bahn blau statt rot ist, macht sogar sie erträglich. Die Überraschungen dieses prächtigen Herbstabends lagen nun erstens in der mächtig Dampf machenden Berliner Ostkurve. Den Lärm, der aus dieser Ecke des Stadions das weite Rund füllte, hatte ich wahrlich nicht erwartet.
Da staunten wir Bauern aus der kleinen Schweiz, wo man schon von Gewitter spricht wenn 500 Kutten den FC Huttwil anfeuern. Kult diese 60'000 Leute in einem einzigen Bauwerk, das sind gleich viele Menschen wie die weltberühmte Stadt Luzern Einwohner zählt. Und das ist immerhin die acht größte Stadt des Landes.
Die zweite Überraschung war dann die flotte Leistung der Herthaner. Die Hauptstädter schickten die Kölsche Jung mit 3-0 in das lange Wochenende. Ganz besonders aufgefallen ist in dieser Partie ein mir vorher gänzlich unbekannter Flügelsprinter mit dem für das Berner Oberland typischen Namen Änis Ben-Hatira. Ich glaube, sein Großvater stammt von der Alp Hohmatt oberhalb meines Dorfes im Simmental. Wie dem auch sei. Seine Ballannahmen, Temposteigerungen, 1-gegen-1 Angriffe und Zuspiele in das Sturmzentrum waren von großer Klasse. Ich jubelte und wurde demütig, hatte ich doch vor dem Spiel posaunt, dass ich mit Ausnahme von Raffael, der lange Zeit beim FC Zürich gespielt hatte, keinen vernünftigen Spieler in Reihen der Berliner kennen würde. Ja, es ist halt einfach so: Gott straft sofort - und das ist auch gut so.
Die zweite Halbzeit verbrachte ich im Halbschlaf und grübelte darüber nach, wieso es doch kein perfekter Abend war in West-Berlin: Das Bier war alkoholfrei aufgrund der Einstufung des Spiels als Risikopartie. Ein Skandal! Ich kann es einfach nicht goutieren, wenn 59'000 herrliche Menschen auf ihr lange ersehntes Bier verzichten müssen, weil vielleicht 1'000 Unangepasste ihrem Ärger über die Schwäche des englischen Pfundes und der Trockenheit der Brezel Luft machen könnten. Und wer entscheidet eigentlich, was ein Risikospiel ist? Tony Blair?
Hier noch die drei sehr sehenswerten Tore:
Ich komme wieder in sieben Jahren. Aber dann gegen Hoffenheim, in der Hoffnung, dass die Welt sich nicht derartig entwickelt haben möge, dass auch dies ein Risikospiel sei.