Gestern machte ein Artikel über die Stadterneuerung in den Londoner Docklands den Auftakt in meine kleine
London-Serie. Nach diesem Projekt mit Wurzeln in den 1980er Jahren folgt nun
heute als Fortsetzung ein Artikel zum zeitgenössische Stadterneuerungsbeispiel
in Stratford.
Historisch betrachtet war Stratford
eine landwirtschaftliche Ortschaft im Nordosten Londons. Mit der
Industrialisierung und dem Aufkommen der Eisenbahn wurde es besonders im 19.
Jahrhundert zu einem Schwergewicht industrieller Fabrikationen. In einem größeren
Zusammenhang lässt sich wohl sagen, dass der Osten Londons prädestiniert war
für industrielle Ansiedlungen. Zentral bestand schon seit römischen Zeiten die
auf Handel und Kommerz ausgerichtete City of London, und im Westen entwickelte
sich früh die City of Westminster, das die City ergänzende Zentrum für Kirche
und Politik. Somit gehe ich davon aus, dass die alte Stadtentwicklung im
Zusammenhang mit Geist und Adel ähnlich wie in Berlin westlich ausgerichtet
war. Da zudem oftmals ein von Westwinden geprägtes Klima herrschen dürfte, war
die Industrie im Osten schon aus zwei Gründen ideal platziert. Schlussendlich fließt
im Gebiet von Stratford auch der River Lea, welcher in der Industriezeit vermutlich
Quelle für Energie und Auffangbecken für Abwässer war.
Stratford war also eine
Arbeitergegend und dementsprechend entstanden auch in der Nachkriegszeit noch
einfachere Wohnblocks, welche mich unweigerlich an englischen Grime oder
Hooligan House Marke Audio Bullys denken ließen.
London als Gesamtstadt ist gegenwärtig
aber eine Global City und scheint zudem aus allen Nähten zu platzen. Es macht
aus dieser Perspektive also möglicherweise durchaus Sinn, Edge Cities zu entwickeln,
um, so die Hoffnung, das Zentrum zu entlasten und die Stadt „dezentral zu
zentralisieren“ wie der Schweizer sagen würde. Die Londoner haben dafür den
London Plan entwickelt, und Stratford spielt in diesem
städtebaulichen Entwicklungsprozess eine wesentliche Rolle.
Der erste massive Eingriff
hinsichtlich die Neugestaltung des Gebiets war der Bahnhof Stratford International, der 2009 eröffnete und an welchem fortan Eurostar-Züge der High
Speed 1 von London auf das europäische Festland – oder auf den Mars, aus Sicht
der Engländer – einen Halt einlegen sollten. Bislang tun sie dies aus
betriebswirtschaftlichen Gründen allerdings nicht; kein guter Start also für
die Entwicklung einer für London zentralen Edge City.
Nichtsdestotrotz folgen nächstes
Jahr die olympischen Sommerspiele in London-Stratford. Diese Spiele bedeuten,
wie aus anderen Städten wie vor allem Barcelona deutlich wurde, eine vermutlich
einmalige städtebauliche Chance. Sie passen deshalb auch passgenau in das
städtische Top-Down-Entwicklungskonzept für Stratford. Dass Olympia eine
massive Restrukturierung des Gebietes bedeuten würde, begriff 2005 auch der
Regisseur Paul Kelly. Er produzierte deshalb damals den poetischen und
sehenswerten Kurzfilm „What Have You Done Today, Mervyn Day?“ – inklusive
wundervoller und von Saint Etienne komponierter Filmmusik, die mich schon 2005 und
ohne das Gebiet jemals persönlich gesehen zu haben berührt hatte.
Schaut man mit den Augen von
Mervyn Day auf die Baustelle, lassen sich bereits heute übergroße Außerirdische
erkennen, die im Lower Lea Valley gelandet sind und über die 2012 weltweit
berichtet werden wird. Besonders der rote, skulpturale Orbit-Turm von
Anish Kapoor wirkt heute irgendwie zusammenhangslos in den Raum geworfen und lässt
bei mir die Vermutung aufkommen, dass hier jemand um jeden Preis auffallen
will.
Neben Verkehrsinfrastruktur und
Olympia werden auch weitere Einrichtungen gebaut, von denen man offensichtlich
zu glauben scheint, dass sie benötigt werden. Das wären einerseits eine der größten
Shopping-Malls Europas: Westfield Stratford City. Andererseits
entstehen zurzeit auch zahlreiche zeitgenössische Wohntürme mit solch
vielsagenden Namen wie beispielsweise dem unten abgebildeten Genesis.
Sicherlich handelt es sich allen Wohnungen um „luxury condos“ oder „stunning
penthouses“ oder so. Wie immer halt bei solchen Projekten *gähn*.
Inwiefern diese Regeneration nicht
nur das räumliche Bild, sondern auch die Sozialstruktur verändern wird, bleibt
offen. Einen diesbezüglicher Artikel der englischen Zeitung
Guardian zeigt jedoch bereits, in welche Richtung es bislang zu gehen scheint.
Gerne würde ich jetzt zugeben,
dass mich die Bilder der internationalen Sportstätten-Architektur, der
unverwurzelten Skulptur von Anish Kapoor und die Young-Professionals-Türme in
Stratford irgendwie melancholisch gestimmt haben. Aber damit oute ich mich doch
irgendwie auch nur als neokonservativer und nostalgischer Sozialromantiker oder
dergleichen. Denn: was bedeuteten denn die Fabriken damals, als sie neu waren? Etwa
etwas anderes als die Gebäude und Strukturen von heute? Früher war es der
Landwirt der klagen konnte wenn die Zukunft unvermittelt über ihn hereinbrach,
gestern war es der Arbeiter, im Hier und Jetzt sind es die letzten verbliebenen
Arbeiter oder der Künstler in der verlassenen Fabrik. Und morgen wird das
Klagen dann vom einfachen Dienstleister stammen und übermorgen vom Engländer.
Irgendwann wird der Orbit-Turm
vermutlich Kulturerbe darstellen oder was weiß ich. Deshalb denke ich manchmal,
dass alles, was wir machen sollten der Versuch ist, den in Schüben auftretenden
aber eigentlic ständigen Wandel mit Würde zu meistern, was auch immer das für
den Einzelnen bedeuten mag. Oder wie es die Stimme am Ende des Films sagt:
„People say it’s all gonna change. But the Lea Valley is always been about
change.“