Vor wenigen Wochen tranken wir auf unserer "Tour de Berlin" ausgezeichneten Kaffee in Schöneberg. Gestern wollten wir in Erfahrung bringen, was man im Neuköllner Schillerkiez an Gaumenfreuden finden kann. Die Antwort vorne weg: Federweisser. Dass dies allerdings so ist, sagt uns einiges über die Entwicklung dieses Kiezes. Doch der Reihe nach.
Um 1900 entstand der Schillerkiez mit der zentralen Schillerpromenade als prestigeträchtige Wohnlage für Einwohner Neuköllns, damals meines Wissens noch Rixdorf genannt. Während einigen Jahrzehnten schien das Gebiet zu prosperieren. In den 1920er Jahren nahm direkt neben dem Quartier der Flughafen Tempelhof seinen Betrieb auf. Mit Zunahme des Verkehrs wurde der Schillerkiez nach dem Zweiten Weltkrieg zunehmend zu einem "Problemviertel" - wie die meisten zentralen Gegenden des Bezirks Neukölln. Erheblicher Fluglärm sorgte für eine Abwertung der Liegenschaften, Besserverdienende zogen weg, Immigranten und benachteiligte Bevölkerungsschichten rückten nach. Die Folge: Der Schillerkiez wurde vom Kapital gemieden; die Spuren davon sieht man noch heute an vielen Stellen.
Ende 2008 schloss der Flughafen. 2010 öffnete auf dem Gelände die Tempelhofer Freiheit. Spätestens wenn man an einem prächtigen Herbsttag 2011 in westlicher Richtung die Herrfurthstrasse entlang geht und sich am Horizont die Weite des Feldes ankündigt realisiert man, dass ein Immobilienentwickler in so einem Moment ein Gefühl einer religiösen Erleuchtung haben muss: der vernachlässigte Kiez ist eine Goldgrube! Keine Mauer mehr, keine Flugzeuge mehr, stattdessen der neue "Central Park"Berlins (Berliner Tageszeitung) vor der Haustüre. Und dazu ein relativ nahes Stadtzentrum, wilhelminische Bausubstanz, eine gesunde Nähe (lies: günstige Anbindung) zum neuen Flughafen BER in Schönefeld und - zumindest bis vor sehr kurzer Zeit - vielversprechend tiefe Mieten.
Das ehemalige Flugfeld, so gesehen vom Eingang an der Herrfurthstrasse, gleicht heute einem grenzenlos überdimensionierten Spiel- und Experimentierplatz. Sport, Spiel, Barbecue, Gärten und die Möglichkeit zum offenen Denken und freien Träumen. Die aus verschiedenen Schichten und Herkunftsländern stammenden urbanen Gärtner sind dabei ein schönes Beispiel dafür, was in der heutigen Zeit passieren kann, wenn man eine freie Fläche quasi durch die städtische Bevölkerung selbst entwickeln lässt. Stichworte, die ich an dieser Stelle ins Spiel bringen kann sind etwa "partizipative Planung" und "Lernen und Zulassen von Informalität". Und obwohl ich kein Planer bin würde ich - gerade auch im Angesicht des Tempelhofer Feldes - spontan dazu tendieren, eine Raumplanung mit klaren Rahmenbedingungen und der Möglichkeit zu inhaltlicher Kreativität und "bürgerlicher Beteiligung" zu unterstützen. Wo früher Flugzeuge starteten, wachsen heute jedenfalls selbst gepflanzte Gemüse und Blumen.
Was bei so einer Entwicklung aber auch wächst ist die Sorge nach Gentrifizierung. Ich selbst betrachte Gentrifizierung bis zu einem gewissen Grad zunächst einmal als neutral. Wie will man anders - als Schweizer? In den Medien und in der gegenwärtigen Volksmeinung ist die Gentrifizierung jedoch des Teufels. Wobei man auch hier präzisieren müsste: Viele der vermeintlich unmittelbar Betroffenen kennen das Phänomen womöglich gar nicht. Stimmung gemacht wird eher von Seiten (gut) ausgebildeter, junger Stadtbewohner als von der türkischen Familie in der günstigen Wohnung im Schillerkiez.
Wir machten uns jedenfalls auf die Suche nach physischen Indikatoren einer möglichen Gentrifizierung und wurden wenig überraschend auch schnell fündig: bei einem Glas Federweisser im Engels! Der transnationale Kreative, Mitglied der vierten sozialen Klasse im Schillerkiez nach dem preussischen Bürger, dem deutschen Arbeiter und dem türkischen Immigrant, kann hier standesgemäss bis in den Nachmittag hinein frühstücken. Oder eben wie wir, selbst alles andere als frei von Schuld, ein Gläschen Federweisser trinken und dabei auf den türkischen Kiosk oder die Alt-Berliner Kneipe hinüber schauen.
Im Schillerkiez existieren zurzeit drei soziale Parallelwelten. Schade nur, dass dies in der langen Frist kaum noch so sein wird. Und ebenso schade, dass man bereits heute deutlich erahnen kann, welche Parallelwelten verschwinden werden. Das Leben ist ein Spiel, mit vorbestimmtem Resultat. Oder doch nicht? Vielleicht sollte die Rolle eines Stadtgeographen darin bestehen, in diesem Entwicklungsprozess für gesellschaftlich positive Überraschungen zu sorgen.