Sonntag, 30. Oktober 2011

Asoziale Zecken Babelsberg


Gestern Samstag heftete ich mich an die Fersen asozialer Babelsberger Zecken. Die Hertha und Union hatten mich bislang ja nur ausgesprochen mässig begeistern können und so kam die Gelegenheit eines Fussball-Spiels der Dritten Liga gerade richtig.

In Babelsberg, einem malerischen Ort zwischen Berlin und Potsdam und bereits auf Boden des Bundeslandes Brandenburg gelegen, ist der FC St. Pauli des Ostens beheimatet: der SV Babelsberg 03. Das herrliche Stadion liegt am Rande alter Arbeitersiedlungen und lässt von der guten alten Zeit des Fussballsports als Freizeitbeschäftigung des Proletariats träumen.


Das passt also insofern ganz wunderbar zur linksalternativ gefärbten Zuschauergemeinde, deren Anwesenheit sich gemäss der Berliner Zeitung taz eigentlich ganz einfach erklären lässt: "Potsdamer Hausbesetzer waren in den 90er Jahren auf der Suche nach einem Verein zum Zuschauen. Sie fanden ihn im SV Babelsberg 03 (...)."

Ich fand zwar keinen Potsdamer Hausbesetzer, dafür den Gabberhead R. J. aus Rotterdam (siehe Porträt), der immerzu etwas von "Speed umsonst" labberte, sowie den Headbanger C. S. aus Hessen. Die Jungs soffen schon im Zug Sterni aus der Flasch und ich musste mitmachen um mich zu integrieren. Wollte ja nicht als Weichei auffliegen.


Das Spiel vor zirka 2'800 Zecken war ein klassischer Ground-Hopping Genuss: Wunderbares Geplänkel im Mittelfeld, wenig zwingende Dominanz der Gästemannschaft aus Osnabrück... und plötzlich aus dem Nichts das skurrile 1:0 für die Hausherren. Die Osnabrücker, vermutlich Aufstiegskandidaten, erzielten jedoch recht bald den wohl unvermeidlichen Ausgleich. Es sah düster aus für den Fünftletzten. Doch wenige Minuten vor dem Ende erzielte Starstürmer Markus Müller den herrlichen Siegtreffer. 2:1, Bier her und jubeln!



R. J. war nun euphorisch wie am Weihnachtsabend auf einem holländischen Gabberrave mit Freispeed. Er will mich fortan zusammenfalten und als Glücksbringer in einem Koffer mit an die Heimspiele nehmen. Kreative Zerstörung würde Schumpeter jetzt nuscheln. Nüchtern fuhren wir mit der S zurück ins grosse Berlin.


P.S. Babelsberg hat vor ein paar Tagen den Schweizer Zlatko Hebib verpflichtet. Ich glaube, ich habe nach über zwei Jahren endlich mein Team gefunden.

Dienstag, 25. Oktober 2011

Der irritierte Flaneur


Wenn man viel im Osten ist, muss man - sofern man die Stadt wirklich auch nur annähernd in ihrer Gesamtheit verstehen will - auch mal in den Westen. Das gilt für Berlin genauso wie für London.

Also gingen wir im adeligen London flanieren. Das wäre ja eigentlich eine prächtige Freitzeitbeschäftigung. Wären da bloss nicht die endlosen Ströme bedenklich nachlässig gekleideter Touristen. Das sind dann eben die Rückseiten einer World Tourism City, einer Stadt mit 45 Millionen Übernachtungen im Jahr 2010 (Rang 1 in Europa, Berlin liegt mit 20 Millionen auf Rang 3, Paris mit 34 Millionen auf Rang 2).

War der Londoner Osten ehemals fast ausschliesslich Arbeitergegend und der Westen Heimat des Adels, ist auf den Straßen in Zeiten massiver Urbanisierung und globaler Umstrukturierungen eine Umkehr der Stile zu beobachten: das Stadtbild historischer Adelsviertel verkommt zu einer Fassade, bevölkert von vermeintlich funktional und unvorsichtig gekleideten Touristen. Der Osten als neuer Standort global operierender Konzerne und junger Kreativer mausert sich demgegenüber urplötzlich zur Schaubühne teurer Anzüge und hipper Untergrundmode.

Stimmt natürlich nicht. Respektive höchstens für einzelne hochfrequentierte Orte zeitgenössischen Tourismus wie die Gegend um Westminster Abbey oder den sowieso wenig charmanten Buckingham Palace. Belgravia (unterstes Foto) hingegen ist davon beispielsweise weit entfernt. Und geniesst der Flaneur dort bei La Bottega erstmal ein Stück fantastischen Zitronenkuchens sieht die Welt gleich wieder deutlich nobler aus.






Die Fassaden sind natürlich immer noch prächtig. Man muss bloss aufpassen welche Motive man wählt, sonst zeigt sich ganz schnell die ganze Realität aus gebautem und bepflanztem Raum sowie  (!) Touristen.

Entschuldigung, dieser Text ist bösartig. Ich sehe auch öfter als mir lieb ist senil aus. Und Kleidung ist nicht alles. Aber eben auch nicht nichts. Zumindest nicht auf irdischen Argumentationsebenen, nicht wahr?

Montag, 24. Oktober 2011

City of London


Die City of London ist ein seltsames Stück Land. Oft wird sie nur City genannt oder Square Mile, denn letzteres entspricht fast ihrer tatsächlichen Größe. Auf diesen umgerechnet etwas weniger als drei Quadratkilometer leben auch nur gut 11'000 Leute. Dementsprechend ruhig ist es in einzelnen Ecken der City am Wochenende auch. Unter der Woche sieht es allerdings anders aus.

Gemäß der  städtischen Behörde arbeiteten 2008 etwas über 300'000 Menschen in der City, wovon alleine 50'000 im Bankwesen beschäftigt waren. Um die Jahrtausendwende waren es sogar noch über 20'000 Banker mehr, die sind aber vermutlich in Horden nach Canary Wharf "strafversetzt" worden, wie es unser Gastgeber bei einer Investmentbank in der City wohl ausgedrückt hätte.

Die City konkurriert hinsichtlich ihrer räumlich extrem gebündelten Bedeutung als Knotenpunkt internationaler Finanzströme eigentlich nur mit der New Yorker Wall Street. So ist London beispielsweise der bedeutendste Handelsort der Erde für Devisen: 2007 wurde über ein Drittel aller weltweiten Devisenhandelsgeschäfte über London abgewickelt. Und heute habe ich in der S-Bahn im Economist gelesen, dass 70 % aller globalen Aktienhandelsgeschäfte über London, New York und Hong Kong laufen würden. Was wir hier sehen, ist das in meinem kürzlichen Blogpost über Canary Wharf angedeutete Phänomen der Global Cities, welche Kontroll- und Steuerungsfunktionen der Weltwirtschaft räumlich bündeln.

In den letzten Jahren entstanden im Einklang mit diesem Geschäftsmodell nun zunehmend und gegen den vermutlich erbitterten Widerstand von English Heritage eine Reihe mehr oder weniger spektakulärer Bürohochhäuser. Das bekannteste ist zweifellos die Gurke von Norman Foster, über den mein Chef kürzlich aus mir noch nicht bekannten Gründen geflucht hat. Auch wenn es niemanden interessieren dürfte, aber ich war und bin seit Beginn der Bauarbeiten begeistert von diesem Gebäude und empfehle deshalb auch den Film über die Entstehungsgeschichte der Londoner Ikone der 2000er Jahre.


In unmittelbarer Nähe (auf dem Foto unten sieht man die Gurke im Hintergrund) steht auch das für die Postmoderne symbolische Lloyds Gebäude vom zweiten Stararchitekten aus London, Richard Rogers.


In den nächsten Jahren werden insbesondere mit dem Pinnacle (288 Meter) und dem Walkie Talkie (160 Meter) noch weitere relativ bemerkenswerte Gebäude errichtet werden und der City damit endgültig ein CBD-Gesicht mit Einzelgebäuden aus unterschiedlichsten Architekturepochen verpassen - ein bemerkenswerter Unterschied beispielsweise zu den Retorten-Geschäftsvierteln wie Canary Wharf, die aufgrund ihrer in kurzer Zeit erfolgten Entwicklung zumindest heute noch eine meist ziemlich einheitliche Architektursprache sprechen. In der City ist das wie gesagt anders. Hier trifft Steinaltes (auf dem untersten Bild: St. Paul, Englands Heiligtum, so gesehen vom Dach des Einkaufszentrums One New Change) auf Futuristisches.




Drei Anmerkungen wollte ich noch machen, die indirekt viel mit der City zu tun haben und die ich für erwähnenswert halte insbesondere für Vergleiche mit meiner Wahlheimat Berlin.

1) In U-Bahnen fand ich auf zahlreichen Fahrten durch die Innenstadt Londons nur zirka zweimal einen Sitzplatz. Uhrzeit egal.
2) Geschätzt auf jeder zweiten Fahrt mit den öffentlichen Verkehrsmitteln sah ich mindestens ein iPad von Apple in meiner nahen Umgebung.
3) In London laufen sehr viele Leute in Anzügen durch die Stadt.

Berlin hat keine City - und zwar nicht erst seit gestern. Das Verhältnis, wie oft ich bei meinen Fahrten mit dem öffentlichen Verkehr einen Sitzplatz finde, ist hier etwa das Gegenteil: Auf zahlreichen Fahrten finde ich zweimal keinen Sitzplatz. Morgens auf dem Weg zur Arbeit stehe ich einmal im Monat. Die Tablets von Apple sehe ich so gut wie nie. Dasselbe gilt für Leute in Anzügen, sie sind eine seltene Spezies in den allermeisten Stadtteilen.

Insbesondere der iPad-Index dürfte relativ aussagekräftig sein hinsichtlich der ökonomischen Power und Bedeutung einer Stadt. Das Gerät ist ziemlich teuer, man braucht es nicht wirklich - aber es ist saugeil und zurzeit noch ein ziemlich begehrtes Statusobjekt. Deshalb ist es für mich irgendwie ein bisschen zum Symbol dieser London-Reise geworden.

Und im Übrigen gefällt mir die Entspanntheit Berlins ja im Grunde genommen ganz gut. Besonders das Platzangebot in öffentlichem Verkehr und auf Straßen ist mehr ein Segen als etwas anderes. Die Stadt mit ihren über drei Millionen Einwohnern wirkt nach London fast wie ein verschlafenes Dorf. Aber die Anzüge fehlen mir schon ein wenig. Klar, sie mögen für manche Symbol des verhassten Kapitalismus sein. Das ist mir in erster Linie jedoch erstmal nicht so wichtig. Zudem kann Entspanntheit leicht mit affiger Nachlässigkeit verwechselt werden. Ich begrüsse die Präsenz von Anzügen und Krawatten schon alleine aus ästhetischen Gründen. Viele Leute sehen darin einfach besser aus und die städtische Szenerie gewinnt durch talentierte Anzugträger ein mir willkommenes Mehr an Eleganz und Haltung. Das Problem ist bloss, dass mehr Anzugträger eine stärkere Wirtschaft bedeuten, was einen höheren Druck auf den Immobilienmarkt bedeutet, was in der Tendenz weniger Freiräume bedeutet, was weniger Clubs wie das About Blank oder die Renate bedeutet, was weniger Einzigartigkeit für Berlin bedeutet. But there is no such thing as a free lunch.


P.S. Am Samstag waren wir im Kino und haben uns Margin Call angesehen, den Film über die Tage vor dem Untergang der Investmentbank Lehman Brothers. Sehenswert! Der Equitiesfloor in der Investmentbank, welche wir vorletzte Woche in der Londoner City besuchten, war einiges schöner als der schmuddelige Floor der Brothers in Manhattan. Aber in beiden Fällen sitzen die BSD ja sowieso auf dem Bondfloor, nicht wahr, Herr Lewis?

Samstag, 22. Oktober 2011

The Shard London


In London wird der zukünftig höchste Wolkenkratzer der EU und zweithöchste Wolkenkratzer Europas hinter einem schrecklichen Turm in der Moskauer City gebaut (Höhe: 310 Meter). Der architektonische Entwurf stammt vom Italiener Renzo Piano, bekannt auch für das Privileg, in Bern das Klee Museum gebaut haben zu dürfen. Der Name ist Scherbe.

Auf unseren Stadtwanderungen durch London haben wir uns ständig über dieses Gebäude unterhalten. Dies ist, gesetzt den Fall man interessiert sich für Architektur, fast unumgänglich, denn der Turm ist eine echte Landmarke und daher aus allen möglichen Perspektiven gut sichtbar.

Da ich in den letzten Tagen viel über zwei Stadterneuerungsprojekte (Canary Wharf und Stratford) geschrieben habe, möchte ich mich diesmal kurz halten mit Worten und in erster Linie die Bilder sprechen lassen. Es braucht nicht immer alles bewertet zu werden, das ist kindisch. Der Waise steht über solchen im Grunde ausserordentlich irdischen Tätigkeiten. Erklärt werden demnach nur die jeweiligen Perspektiven.


Oben: der Ganges *räusper: plumper Scherz* und die Shard auf der linken, südlichen Uferseite mit Blick gen Westen.


Oben: Kirche vor Scherbe, bemerkenswerter Kontrast in Southwark.


Oben: Borough Market wird überragt von der Scherbe.


Oben: Shard in der Abenddämmerung, gesehen von der Millennium Bridge bei der Tate Modern in Richtung Osten.


Oben: Aussicht auf den höchsten Turm der EU vom Dach des von Jean Nouvel entworfenen Einkaufszentrums One New Change. Tipp: die öffentlich und umsonst zugängliche Dachterrasse ist noch nicht sonderlich bekannt. Das wird sich natürlich bald ändern.

Freitag, 21. Oktober 2011

Stadterneuerung: Stratford London

Gestern machte ein Artikel über die Stadterneuerung in den Londoner Docklands den Auftakt in meine kleine London-Serie. Nach diesem Projekt mit Wurzeln in den 1980er Jahren folgt nun heute als Fortsetzung ein Artikel zum zeitgenössische Stadterneuerungsbeispiel in Stratford.

Historisch betrachtet war Stratford eine landwirtschaftliche Ortschaft im Nordosten Londons. Mit der Industrialisierung und dem Aufkommen der Eisenbahn wurde es besonders im 19. Jahrhundert zu einem Schwergewicht industrieller Fabrikationen. In einem größeren Zusammenhang lässt sich wohl sagen, dass der Osten Londons prädestiniert war für industrielle Ansiedlungen. Zentral bestand schon seit römischen Zeiten die auf Handel und Kommerz ausgerichtete City of London, und im Westen entwickelte sich früh die City of Westminster, das die City ergänzende Zentrum für Kirche und Politik. Somit gehe ich davon aus, dass die alte Stadtentwicklung im Zusammenhang mit Geist und Adel ähnlich wie in Berlin westlich ausgerichtet war. Da zudem oftmals ein von Westwinden geprägtes Klima herrschen dürfte, war die Industrie im Osten schon aus zwei Gründen ideal platziert. Schlussendlich fließt im Gebiet von Stratford auch der River Lea, welcher in der Industriezeit vermutlich Quelle für Energie und Auffangbecken für Abwässer war.

Stratford war also eine Arbeitergegend und dementsprechend entstanden auch in der Nachkriegszeit noch einfachere Wohnblocks, welche mich unweigerlich an englischen Grime oder Hooligan House Marke Audio Bullys denken ließen.


London als Gesamtstadt ist gegenwärtig aber eine Global City und scheint zudem aus allen Nähten zu platzen. Es macht aus dieser Perspektive also möglicherweise durchaus Sinn, Edge Cities zu entwickeln, um, so die Hoffnung, das Zentrum zu entlasten und die Stadt „dezentral zu zentralisieren“ wie der Schweizer sagen würde. Die Londoner haben dafür den London Plan entwickelt, und Stratford spielt in diesem städtebaulichen Entwicklungsprozess eine wesentliche Rolle.

Der erste massive Eingriff hinsichtlich die Neugestaltung des Gebiets war der Bahnhof Stratford International, der 2009 eröffnete und an welchem fortan Eurostar-Züge der High Speed 1 von London auf das europäische Festland – oder auf den Mars, aus Sicht der Engländer – einen Halt einlegen sollten. Bislang tun sie dies aus betriebswirtschaftlichen Gründen allerdings nicht; kein guter Start also für die Entwicklung einer für London zentralen Edge City.

Nichtsdestotrotz folgen nächstes Jahr die olympischen Sommerspiele in London-Stratford. Diese Spiele bedeuten, wie aus anderen Städten wie vor allem Barcelona deutlich wurde, eine vermutlich einmalige städtebauliche Chance. Sie passen deshalb auch passgenau in das städtische Top-Down-Entwicklungskonzept für Stratford. Dass Olympia eine massive Restrukturierung des Gebietes bedeuten würde, begriff 2005 auch der Regisseur Paul Kelly. Er produzierte deshalb damals den poetischen und sehenswerten Kurzfilm „What Have You Done Today, Mervyn Day?“ – inklusive wundervoller und von Saint Etienne komponierter Filmmusik, die mich schon 2005 und ohne das Gebiet jemals persönlich gesehen zu haben berührt hatte.


Schaut man mit den Augen von Mervyn Day auf die Baustelle, lassen sich bereits heute übergroße Außerirdische erkennen, die im Lower Lea Valley gelandet sind und über die 2012 weltweit berichtet werden wird. Besonders der rote, skulpturale Orbit-Turm von Anish Kapoor wirkt heute irgendwie zusammenhangslos in den Raum geworfen und lässt bei mir die Vermutung aufkommen, dass hier jemand um jeden Preis auffallen will.



Neben Verkehrsinfrastruktur und Olympia werden auch weitere Einrichtungen gebaut, von denen man offensichtlich zu glauben scheint, dass sie benötigt werden. Das wären einerseits eine der größten Shopping-Malls Europas: Westfield Stratford City. Andererseits entstehen zurzeit auch zahlreiche zeitgenössische Wohntürme mit solch vielsagenden Namen wie beispielsweise dem unten abgebildeten Genesis. Sicherlich handelt es sich allen Wohnungen um „luxury condos“ oder „stunning penthouses“ oder so. Wie immer halt bei solchen Projekten *gähn*.





Inwiefern diese Regeneration nicht nur das räumliche Bild, sondern auch die Sozialstruktur verändern wird, bleibt offen. Einen diesbezüglicher Artikel der englischen Zeitung Guardian zeigt jedoch bereits, in welche Richtung es bislang zu gehen scheint.

Gerne würde ich jetzt zugeben, dass mich die Bilder der internationalen Sportstätten-Architektur, der unverwurzelten Skulptur von Anish Kapoor und die Young-Professionals-Türme in Stratford irgendwie melancholisch gestimmt haben. Aber damit oute ich mich doch irgendwie auch nur als neokonservativer und nostalgischer Sozialromantiker oder dergleichen. Denn: was bedeuteten denn die Fabriken damals, als sie neu waren? Etwa etwas anderes als die Gebäude und Strukturen von heute? Früher war es der Landwirt der klagen konnte wenn die Zukunft unvermittelt über ihn hereinbrach, gestern war es der Arbeiter, im Hier und Jetzt sind es die letzten verbliebenen Arbeiter oder der Künstler in der verlassenen Fabrik. Und morgen wird das Klagen dann vom einfachen Dienstleister stammen und übermorgen vom Engländer.

Irgendwann wird der Orbit-Turm vermutlich Kulturerbe darstellen oder was weiß ich. Deshalb denke ich manchmal, dass alles, was wir machen sollten der Versuch ist, den in Schüben auftretenden aber eigentlic ständigen Wandel mit Würde zu meistern, was auch immer das für den Einzelnen bedeuten mag. Oder wie es die Stimme am Ende des Films sagt: „People say it’s all gonna change. But the Lea Valley is always been about change.“

Donnerstag, 20. Oktober 2011

Stadterneuerung: Canary Wharf London


Letzte Woche war ich nach langer Zeit endlich wieder einmal für ein paar Tage in London. In nächster Zeit werden deshalb einige Artikel zu dieser nach wie vor außergewöhnlich faszinierenden Metropole erscheinen. Los geht es mit einem vergleichsweise ausführlichen Artikel zu einem bekannten Stadterneuerungsprojekt im Osten der Stadt: Canary Wharf. Heute einmal sehr strukturiert. P.S. Durchhalten, Fotos folgen weiter unten.

Der Aufstieg

Im Zuge der Kolonialisierung weiter Teile der Welt durch das Britische Empire und die beginnende Industrialisierung weitete sich der internationale Handel und mit ihm der Schiffsverkehr aus. Damit einher gingen steigende Ansprüche an die Hafenanlagen, und so kam es ab 1696 mit dem Bau der Greenland Docks zu einer Verschiebung der Hafenanlagen vom Zentrum Londons in tieferes Wasser nach Osten. Mit dem Bau des ersten Schleusenhafens - den West India Docks (1802) - begann sich das Gebiet zum neuen Hafen Londons zu entwickeln. Im Verlauf des 19. Jahrhunderts kamen weitere Docks hinzu und es siedelten sich zunehmend auch Zulieferbetriebe und Dienstleistungsanbieter verschiedenster Art an. Anfangs der 60er Jahre des 19. Jahrhunderts waren sodann mehr als 20'000 Männer im Hafengebiet tätig und es entstanden neue Wohngebiete für die Arbeiter. Die ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts waren noch bis Mitte des Jahrhunderts geprägt von florierendem Handel und zunehmendem Wohlstand.

Der Abstieg

Die neuen Entwicklungen in der Schifffahrt zwischen 1960 und 1970 bedeuteten das Ende des Hafens in seiner bisherigen Form: Als Folge des globalisierten Handels wurde der zeit- und kostenintensive Stückgutumschlag ab den 1960er Jahren weltweit durch die Containertechnologie und das viel größere Containerschiff ersetzt, was die Tragfähigkeit der Docklands zunehmend überforderte. Dieser Prozess endete 1980 in der Schließung der Docks, was wenig überraschend einschneidende ökonomische und soziale Veränderungen nach sich zog.

Die Top-Down-Regenartion

London zählte trotz des Niedergangs seines Hafens auch um 1980 zu den wichtigsten Global Cities der Welt. Dementsprechend waren viele wirtschaftliche Prozesse, die sich in einer Stadt wie London territorialisierten, von globaler Reichweite. Gleichzeitig trug der Globalisierungstrend der weltweiten Zerstreuung ökonomischer Aktivitäten gemäß der Koryphäe Saskia Sassen dazu bei, dass sich eine Nachfrage entwickelt hatte für neue Arten einer territorialen Zentralisierung hoher Management- und Kontrollfunktionen. Diese Rolle Londons als Global City - verstärkt durch den lokalen Mangel an Bürofläche (City of London) sowie staatlich geförderte Steuervergünstigungen für das Gebiet der Docklands (Thatcherism) - war daher eine wichtige Antriebskraft für die bauliche und von oben gesteuerte Regeneration der Docklands.

Die heutigen Docklands

Aus Docks für Industrie wurden Türme für Banken. Obwohl das Gebiet immer noch einer globalisierten Insel und einem von nationaler Identität gänzlich abgekoppelten Ort ähnlich ist, entstehen allem Anschein nach auch beträchtliche Auswirkungen auf die umliegenden, traditionell durch Arbeiterschichten geprägten Gebiete: War Canary Wharf - der anfänglich entwickelte Teil der Docklands - zuerst fast ein völliger räumlicher Fremdkörper, den zu erreichen erst eine Fahrt mit dem Taxi oder der Docklands Light Railway durch sozial schwaches Ost-Londoner Gebiet erforderte, werden dort gegenwärtig nun auch immer mehr Wohnhochhäuser (siehe Foto unten) gebaut und angrenzende Altbaugebiete werden gentrifiziert oder zumindest transformiert.



Noch ist das Gebiet aber nicht so weit verwurzelt, dass es von allen als attraktiv angesehen wird. Ein deutscher Investmentbanker, der in Canary Wharf gearbeitet hat und nun in der City sitzt, erwiderte uns gegenüber jedenfalls: „Wer will schon in Canary Wharf leben? Da kann ich genau so gut in Gelsenkirchen leben.“ Es sei zu weit weg vom kulturellen Leben der Stadt und dessen Dynamik. Zwar gibt es einige Restaurants und zahlreiche Einkaufsmöglichkeiten für die geschätzten 90’000 Arbeitnehmer, aber es gibt in unmittelbarer Nähe trotzdem nicht die zahlreichen urbanen Annehmlichkeiten der gewachsenen oder von unten transformierten Stadt.


Die Symbolik

1) Die Türme entsprechen meines Erachtens physischen Machtmanifestationen einer in etlichen Belangen globalisierten und postnationalen Welt. Früher der Tempel, dann die Kirche, dann das Rathaus, dann die Fabrik oder der Bahnhof, heute der Wolkenkratzer der global operierenden Firma. Was kommt morgen? The Cloud? Oder vielleicht die Renaissance der Höhle?


2) Als Einheit gleicht besonders Canary Wharf Metropolis von Fritz Lang. Dieser Film von 1927 zeichnete schon in der Weimarer Republik das Bild der Stadt als Fabrik oder der städtischen Fabrik innerhalb der Stadt sowie des Verhältnisses zwischen unterschiedlichen Klassen. Die Docklands Light Railway führt die Arbeiter der globalen Stadt auf Trassen in das Innere der Maschine (siehe Foto unten). Das Individuum ist im wahrsten Sinne Humankapital für die kapitalistische Maschine, welche den Weltmotor am Laufen hält. Wenig verwunderlich, dass der oben genannte Investmentbanker von einer „möglichst effizienten Arbeitsumgebung“ gesprochen hat. Die Umgebung (Struktur, Ausstattung etc.) soll die Leistung der Einzelkomponenten optimieren.


3) Ein Gebiet wie Canary Wharf verdeutlicht die Existenz von Global Cities par excellence. Die alte europäische Stadt wurde zu klein, der Wachstumsdruck im Kampf um globale Steuerungs- und Kontrollfunktionen und damit um Profite - auf jede Transaktion kann potentiell eine Gebühr erhoben werden - zwang zu Expansion, die Expansion manifestiert sich räumlich im Bau von ausgelagerten Orten postnationaler Ästhetik. Fast identische Entwicklungen weisen auch Paris (La Défense) und Moskau (City, siehe hier auch mein Blogpost dazu) aus, die beiden weiteren wirtschaftlich besonders relevanten Großstädte Europas.

Samstag, 15. Oktober 2011

Cityscapes: Tehran







Die Fotos - aufgenommen von verschiedenen Fotografen - stammen von skyscrapercity.com.

Mittwoch, 12. Oktober 2011

Themen einer Studentenparty in Berlin

Letztes Wochenende wollte mein noch junger und ergo ungeheuerlich dynamische Mitbewohner eine Party bei uns zu Hause organisieren. Mehr wider- als willig stimmte ich zu, schleppte Bier und stellte Musik für den Abend zusammen. Geblieben sind mir, wenn ich nach ein paar Tagen spontan zurück denke, vor allem drei Dinge:

1) Ja, man kann Caipirinha auch aus 0,5-Liter-Biergläsern trinken. Stil ist hier nicht die Frage. Qualität aber schon, und die gewährleistete unser Chef de Bar Iannis aus Lausanne ohne Wenn und Aber.


2) Zwischen zwei Runden entwickelte sich eine angeregte Debatte über Country-Musik. Ich hatte mit den löblichen Zielen a) der Erheiterung meines Gemüts, b) der Erzeugung von Gesprächsstoff und c) der Idee einer "Weiterbildung für intellektuelle Studenten" einige Stücke währschafter Country-Musik in meine Playlist des Abends integriert. Man macht ja schliesslich auch Bildungsreisen mit Freude? Warum sollte ein derartiger Aspekt nicht auch auf einer ansonsten Hundsverlocheten Sinn machen?

Wie dem auch sei. Die Punkte a) und b) konnten so ohne weiteres umgesetzt werden. Dass jemand anders ausser mir nachhaltig an Country-Musik Gefallen entwickelte muss jedoch stark in Frage gestellt werden. Schelte von allen Seiten war die Reaktion der Narren. Doch weiss ich wahrlich nicht, was an solcher Musik auszusetzen sei.



3) Dann war wahrlich Zeit für die nächste Runde.


God natt killar!

Montag, 3. Oktober 2011

Markthalle Neun in Kreuzberg

Am Wochenende waren wir auf unseren Streifzügen durch Berlin zu Gast in der "neuen alten" Markthalle Neun in Kreuzberg. Sie ist meines Erachtens ein sehr gut gelungenes Beispiel zeitgenössischer, lokaler Stadtentwicklung. Die Tatsache nämlich, dass an dieser historischen Stelle seit Samstag wieder wöchentlich Märkte stattfinden, ist doch einigermassen bemerkenswert.

 

Die Markthalle eröffnete vor 120 Jahren (1891) im Rahmen einer planmässigen Verlagerung vieler Wochenmärkte in vor schlechter Witterung und problematischer Hygiene besser geschützte Hallen. Heute gibt es von ursprünglich 14 solcher Hallen nur noch deren drei, denn im Unterschied zu vielen anderen Hallen wurde die Markthalle Neun während des Zweiten Weltkrieges nur vergleichsmässig geringfügig beschädigt. Deutlich mehr Schaden richtete gemäß der Historikerin Angela Martin dann 1977 der Einzug von Aldi an! Es folgten Drospa und KIK-Märkte und immer mehr Marktstände wurden verlassen.

Dann kam die Wende. Eine Projektgruppe arbeitete "(...) seit Anfang 2009 transparent und im offenen Dialog mit den AnwohnerInnen, dem Bezirk und dem Senat an der Entwicklung eines nachhaltigen Nutzungskonzepts für die Markthalle IX - ein Konzept im Sinne einer verantwortungsvollen Stadtentwicklung und den Interessen der Nachbarschaft." Die  Beteiligten haben sich in der Folge "(...) dafür eingesetzt, dass die Qualität des Nutzungskonzepts bei der Privatisierung der Eisenbahnmarkthalle eine Rolle spielen muss." So wurde erreicht, "(...) dass die historische Eisenbahnmarkthalle nicht durch den Höchstbietenden in eine weitere "Supermarkthalle" umgewandelt, sondern Gegenstand einer qualitätsbezogenen Ausschreibung wurde." (Markthalle9)

Seither wird aus einer Vision schrittweise Realität: "Eine Markthalle, die sich abgrenzt vom schnöden Discountereinheitsbrei und vielen kleinen Händlern eine Plattform bietet. Ein Ort mit Symbolcharakter für die bunte Vielfalt Kreuzbergs, seine wirtschaftliche Kreativität und soziale Integrationskraft." (Markthalle9)


Diese Vorhaben und das entsprechende Konzept werden, so scheint es, mit großem Erfolg umgesetzt. Unser Eindruck am Samstag war jedenfalls sehr positiv: angefangen mit der oben ersichtlichen Schaffung von Transparenz bezüglich Geschichte, Vision und Realisierung über die bisher gelungene Freilegung der ursprünglichen Architektur bis hin zu den verschiedenen Ständen und Einkaufsmöglichkeiten. Wir haben auf dem ersten Wochenmarkt jedenfalls mit Freude Blumen,  köstlichen Zwiebelkuchen, ökologischen Federweißer sowie - und das ist ungewöhnlich für einen Markt - die aktuelle Ausgabe von Monocle gekauft.


Nur eine Sache finde ich im Augenblick ein wenig bedauerlich. Die Vision sieht vor (siehe oben), dass der Ort ein Symbolcharakter für die "Vielfalt Kreuzbergs" und die "soziale Integrationskraft" werden soll und dem "schnöden Discountereinheitsbrei" der Garaus gemacht werden will. Ich aber finde, dass gerade das Nebeneinander von Aldi und unabhängigen Marktständen einen besonderen Reiz ausübt. Ist nicht dies die Vielfalt Kreuzbergs und die soziale Integrationskraft? Das nämlich dem Besucher der Markthalle die Wahl gelassen wird zwischen eben diesen beiden Polen, die doch meines Erachtens die Vielfalt Kreuzbergs ausmachen. Nur Aldi ist ganz und gar nicht Kreuzberg. Aber nur Marktstand ist vielleicht auch ein wenig bevormundend und bildungsbürgerlich. Ich weiß es nicht genau. Ich weiß aber, dass die Markthalle auf mich in ihrem aktuellen Übergangszustand mehr Reiz ausübt als eine von Discountern "gesäuberte" - gentrifizierte (?) - Markthalle.

Übrigens: vor oder nach dem Marktbesuch kann man im zugehörigen Weltrestaurant Markthalle sehr guten Kaffe trinken.


Mir gefielen der Raum und die Einrichtung, mit Ausnahme der teilweise ziemlich schrecklichen Lampen, so gut, dass wir am Sonntag Abend mit unseren Gästen gleich hier essen gingen. Das Wiener Schnitzel war sehr lecker. Und das Meckatzer Sonntagsbier aus dem Allgäu war schlichtweg sensationell!


Sonntag, 2. Oktober 2011

Risikospiel in Berlin

Gestern Abend wollte ich Tante Hertha eine zweite Chance geben. Das sollte man immer machen im Leben, zwei Chancen mindestens verdient alles und jeder. Aber solche Kalendersprüche kennen wir alle zur Genüge, nicht wahr? Deshalb gleich zum Sportlichen.

Mein erstes und bisher einziges Hertha-Spiel ging im Oktober 2009 über die Bühne. Damals spielten die Hauptstädter gegen den HSV, damals noch etwas weniger armselig als heute, und verloren 2:3. Ich kann mich an zwei Dinge gut erinnern: Ich verpasste 2-3 Tore wegen Bierseligkeit und fand das Spiel zwar ansprechend, konnte mich aber dennoch nicht dafür erwärmen fortan Hertha-Fan zu sein. Ich habe es versucht, ehrlich.

Nun also die zweite Gelegenheit gegen einen Verein, der mir komischerweise seit Jahren irgendwie ein bisschen am Herzen liegt - obwohl es eigentlich ein erbärmlich geführter und notorisch erfolgloser Verein ist: der 1. FC Köln. Wahrscheinlich lag es an Toni Polster, Held der Alpen und Liebhaber stilvoller Frisuren...

Dass das Stadion eine Pracht ist wusste ich bereits. Hier aber nochmals der Beweis für Ungläubige:


Das ist, was man gemeinhin mit dem Begriff Eleganz bezeichnet. Und die Tatsache, dass die Leichtathletik-Bahn blau statt rot ist, macht sogar sie erträglich. Die Überraschungen dieses prächtigen Herbstabends lagen nun erstens in der mächtig Dampf machenden Berliner Ostkurve. Den Lärm, der aus dieser Ecke des Stadions das weite Rund füllte, hatte ich wahrlich nicht erwartet.


Da staunten wir Bauern aus der kleinen Schweiz, wo man schon von Gewitter spricht wenn 500 Kutten den FC Huttwil anfeuern. Kult diese 60'000 Leute in einem einzigen Bauwerk, das sind gleich viele Menschen wie die weltberühmte Stadt Luzern Einwohner zählt. Und das ist immerhin die acht größte Stadt des Landes.


Die zweite Überraschung war dann die flotte Leistung der Herthaner. Die Hauptstädter schickten die Kölsche Jung mit 3-0 in das lange Wochenende. Ganz besonders aufgefallen ist in dieser Partie ein mir vorher gänzlich unbekannter Flügelsprinter mit dem für das Berner Oberland typischen Namen Änis Ben-Hatira. Ich glaube, sein Großvater stammt von der Alp Hohmatt oberhalb meines Dorfes im Simmental. Wie dem auch sei. Seine Ballannahmen, Temposteigerungen, 1-gegen-1 Angriffe und Zuspiele in das Sturmzentrum waren von großer Klasse. Ich jubelte und wurde demütig, hatte ich doch vor dem Spiel posaunt, dass ich mit Ausnahme von Raffael, der lange Zeit beim FC Zürich gespielt hatte, keinen vernünftigen Spieler in Reihen der Berliner kennen würde. Ja, es ist halt einfach so: Gott straft sofort - und das ist auch gut so.

Die zweite Halbzeit verbrachte ich im Halbschlaf und grübelte darüber nach, wieso es doch kein perfekter Abend war in West-Berlin: Das Bier war alkoholfrei aufgrund der Einstufung des Spiels als Risikopartie. Ein Skandal! Ich kann es einfach nicht goutieren, wenn 59'000 herrliche Menschen auf ihr lange ersehntes Bier verzichten müssen, weil vielleicht 1'000 Unangepasste ihrem Ärger über die Schwäche des englischen Pfundes und der Trockenheit der Brezel Luft machen könnten. Und wer entscheidet eigentlich, was ein Risikospiel ist? Tony Blair?

Hier noch die drei sehr sehenswerten Tore:



Ich komme wieder in sieben Jahren. Aber dann gegen Hoffenheim, in der Hoffnung, dass die Welt sich nicht derartig entwickelt haben möge, dass auch dies ein Risikospiel sei.