Sankt Petersburg wurde 1703 von Zar Peter dem Großen als Festung gegen die angriffslustigen Schweden gegründet und bald darauf zur neuen russischen Hauptstadt gekürt. Nach dem Ableben des wissbegierigen, kosmopolitischen und reisefreudigen Herrschers wurde jedoch für relativ kurze Zeit wiederum Moskau die Hauptstadt Russlands. Erst ab den 1740er Jahren – unter Zarin Elizabeth und ihren Nachfolgern Katharina der Großen und Nikolaus I – wurde Sankt Petersburg zur barocken und klassizistischen Residenzstadt.
Auch heute noch beeindruckt das bewundernswert reiche und einheitlich durchdachte Stadtbild, welches insbesondere von der zentralen Admiralität ausgeht. Die Stadt an der Newa-Mündung sollte nicht eng und dunkel, sondern, gemäß Karl Schlögel (‚Petersburg – das Laboratorium der Moderne’), "klar und lichtvoll wie eine Regel" sein. „Es war die Zeit, als Peters fürstliche Kollegen überall in Europa die Geometrie als irdische Entsprechung göttlicher, nunmehr naturwissenschaftlich erforschter Gesetze zum Motiv ihrer Stadtgründungen machten: Absolutismus mit noch einer leichten Verbeugung zum Weltenschöpfer, zur kosmischen Ordnung hin.“ (Der Freitag, 30.03.11)
Karte der Stadtentwicklung von Sankt Petersburg (30.03.11)
Nicht nur der geometrische, rasterartige Grundriss, sondern auch die ihn säumenden Gebäude sind eine Huldigung der Eleganz. Besonders interessant ist auch die oben bereits angedeutete Tatsache, dass Leningrad, wie die Stadt während der Roten Jahrzehnte hieß, zwar eigentlich in Russland liegt, ihr historisches Erscheinungsbild jedoch außerordentlich westeuropäisch ist. Nach Schlögel stand die Stadt "für Aufklärung, Glanz, Disziplin, bürokratisches Reglement und den Geist des Okzidents; Moskau stand für das alte Russland, für Schläfrigkeit, Rechtgläubigkeit, und mit seinen goldenen Kuppeln war es Orient an der westlichen Grenze Eurasiens.“ Kaum verwunderlich, dass die Stadt deshalb in erster Linie von italienischen und französischen Planern und Architekten gebaut wurde. Ob hingegen die für Moskau diagnostizierten Merkmale der Schläfrigkeit und Rechtgläubigkeit (!) heute noch Geltung haben, darf berechtigterweise bezweifelt werden.
Gemälde der Newa mit der unten angesprochenen Börse im Hintergrund (30.03.11)
Während früher auch nicht alles löblich war – die Stadt wurde unter extremen Verlusten menschlicher Leben aus Sümpfen gebaut – ist der heutige Verkehr eine der modernen Schattenseiten. Nicht selten ergriff mich beim unvermeidlichen Anblick gewaltiger Verkehrsströme oder beim erfolglosen Versuch, entlang einer der prächtigen Prospekte meine Gesprächspartnerin zu verstehen, ein Gefühl großer Melancholie und Verabscheuung. Verabscheuung gegenüber dem zeitgenössischen urbanen motorisierten Individualverkehr und den Instanzen, die ihn in Städten wie Sankt Petersburg nicht besser zu kontrollieren gewillt sind.
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Mir ist dabei aber natürlich auch bewusst, dass ebenfalls eine große Ohnmacht existieren muss. Eine Stadt mit einem derartig reichen Kulturerbe wird auch gewaltig zur Kasse gebeten bezüglich der Instandhaltung aller ihrer Preziosen. Ich vermute, dass die städtischen Behörden nicht nur wenig Interesse an einer aus meiner Sicht sinnvollen und modernen Verkehrsberuhigung haben, sondern dass vor allem auch kein Geld zur Verfügung steht für dichte Netze an öffentlichem Verkehr und Entlastungs- und Umfahrungsrouten. Darüber hinaus haben wir ja bereits gelernt, dass das Auto für viele Russen ein unbedingt erstrebenswertes Statussymbol darstellt.
Nun möchte ich nicht falsch verstanden werden. Ich fluche nicht gegen ‚das Auto’, keineswegs. Auch müssen Städte keine gigantischen Freilichtmuseen sein. Beides sind respektive wären meines Erachtens wohl falsche Extreme. Stattdessen schwebt mir vielmehr eine aristotelische, goldene Mitte vor. Eine Mitte, die der Eleganz und Anmut dieser Stadt noch den Raum zum Atmen gibt. Wie das zu erreichen wäre? Wahrscheinlich durch eine Mischung von Instrumenten: neue Infrastrukturen, Verbote, (finanzielle und andere) Anreize, Sensibilisierung durch Bildung sowie vor allem... Zeit. Eines jedenfalls ist naheliegend: Peter der Große und seine Nachfolger würden sich im Grabe umdrehen wenn sie sehen würden, was in ihrer an göttlichen Gesetzen orientierten Stadt heute alles die Straßen verstopft. Und es bleibt zu hoffen, dass ihnen niemand etwas von der ‚Autobahn’ zu Ohren trägt, welche zivilisierterweise unmittelbar vor der klassizistischen Börse angelegt wurde. Eine ‚Autobahn’, die wahrscheinlich nur für diese Luftaufnahme für den Verkehr gesperrt wurde, was irgendwie auch typisch Russisch sein könnte.