Dienstag, 29. März 2011

Stadtentwicklung: Sankt Petersburg

Sankt Petersburg wurde 1703 von Zar Peter dem Großen als Festung gegen die angriffslustigen Schweden gegründet und bald darauf zur neuen russischen Hauptstadt gekürt. Nach dem Ableben des wissbegierigen, kosmopolitischen und reisefreudigen Herrschers wurde jedoch für relativ kurze Zeit wiederum Moskau die Hauptstadt Russlands. Erst ab den 1740er Jahren – unter Zarin Elizabeth und ihren Nachfolgern Katharina der Großen und Nikolaus I – wurde Sankt Petersburg zur barocken und klassizistischen Residenzstadt.

Auch heute noch beeindruckt das bewundernswert reiche und einheitlich durchdachte Stadtbild, welches insbesondere von der zentralen Admiralität ausgeht. Die Stadt an der Newa-Mündung sollte nicht eng und dunkel, sondern, gemäß Karl Schlögel (‚Petersburg – das Laboratorium der Moderne’), "klar und lichtvoll wie eine Regel" sein. „Es war die Zeit, als Peters fürstliche Kollegen überall in Europa die Geometrie als irdische Entsprechung göttlicher, nunmehr naturwissenschaftlich erforschter Gesetze zum Motiv ihrer Stadtgründungen machten: Absolutismus mit noch einer leichten Verbeugung zum Weltenschöpfer, zur kosmischen Ordnung hin.“ (Der Freitag, 30.03.11)

Karte der Stadtentwicklung von Sankt Petersburg (30.03.11)

Nicht nur der geometrische, rasterartige Grundriss, sondern auch die ihn säumenden Gebäude sind eine Huldigung der Eleganz. Besonders interessant ist auch die oben bereits angedeutete Tatsache, dass Leningrad, wie die Stadt während der Roten Jahrzehnte hieß, zwar eigentlich in Russland liegt, ihr historisches Erscheinungsbild jedoch außerordentlich westeuropäisch ist. Nach Schlögel stand die Stadt "für Aufklärung, Glanz, Disziplin, bürokratisches Reglement und den Geist des Okzidents; Moskau stand für das alte Russland, für Schläfrigkeit, Rechtgläubigkeit, und mit seinen goldenen Kuppeln war es Orient an der westlichen Grenze Eurasiens.“ Kaum verwunderlich, dass die Stadt deshalb in erster Linie von italienischen und französischen Planern und Architekten gebaut wurde. Ob hingegen die für Moskau diagnostizierten Merkmale der Schläfrigkeit und Rechtgläubigkeit (!) heute noch Geltung haben, darf berechtigterweise bezweifelt werden.

Gemälde der Newa mit der unten angesprochenen Börse im Hintergrund (30.03.11)

Während früher auch nicht alles löblich war – die Stadt wurde unter extremen Verlusten menschlicher Leben aus Sümpfen gebaut – ist der heutige Verkehr eine der modernen Schattenseiten. Nicht selten ergriff mich beim unvermeidlichen Anblick gewaltiger Verkehrsströme oder beim erfolglosen Versuch, entlang einer der prächtigen Prospekte meine Gesprächspartnerin zu verstehen, ein Gefühl großer Melancholie und Verabscheuung. Verabscheuung gegenüber dem zeitgenössischen urbanen motorisierten Individualverkehr und den Instanzen, die ihn in Städten wie Sankt Petersburg nicht besser zu kontrollieren gewillt sind.

Hauptachse Newski-Prospekt: vom Prachtsprospekt zur Rennstrecke

Mir ist dabei aber natürlich auch bewusst, dass ebenfalls eine große Ohnmacht existieren muss. Eine Stadt mit einem derartig reichen Kulturerbe wird auch gewaltig zur Kasse gebeten bezüglich der Instandhaltung aller ihrer Preziosen. Ich vermute, dass die städtischen Behörden nicht nur wenig Interesse an einer aus meiner Sicht sinnvollen und modernen Verkehrsberuhigung haben, sondern dass vor allem auch kein Geld zur Verfügung steht für dichte Netze an öffentlichem Verkehr und Entlastungs- und Umfahrungsrouten. Darüber hinaus haben wir ja bereits gelernt, dass das Auto für viele Russen ein unbedingt erstrebenswertes Statussymbol darstellt.

Nun möchte ich nicht falsch verstanden werden. Ich fluche nicht gegen ‚das Auto’, keineswegs. Auch müssen Städte keine gigantischen Freilichtmuseen sein. Beides sind respektive wären meines Erachtens wohl falsche Extreme. Stattdessen schwebt mir vielmehr eine aristotelische, goldene Mitte vor. Eine Mitte, die der Eleganz und Anmut dieser Stadt noch den Raum zum Atmen gibt. Wie das zu erreichen wäre? Wahrscheinlich durch eine Mischung von Instrumenten: neue Infrastrukturen, Verbote, (finanzielle und andere) Anreize, Sensibilisierung durch Bildung sowie vor allem... Zeit. Eines jedenfalls ist naheliegend: Peter der Große und seine Nachfolger würden sich im Grabe umdrehen wenn sie sehen würden, was in ihrer an göttlichen Gesetzen orientierten Stadt heute alles die Straßen verstopft. Und es bleibt zu hoffen, dass ihnen niemand etwas von der ‚Autobahn’ zu Ohren trägt, welche zivilisierterweise unmittelbar vor der klassizistischen Börse angelegt wurde. Eine ‚Autobahn’, die wahrscheinlich nur für diese Luftaufnahme für den Verkehr gesperrt wurde, was irgendwie auch typisch Russisch sein könnte.

Skandal (30.03.11)

Freitag, 25. März 2011

Russische Momente

Sehr bemerkenswert, wie diese junge Russin auf dem Kopfsteinpflaster des Roten Platzes mit ihren High-Heels derartig elegante Luftsprünge vollzieht:


Herrlich Schaschlik essen in einem verrauchten Moskauer Imbiss:


Dieser aufgeschlossene Zeitgenosse wollte uns Schürzen verkaufen. Allerdings, wenn ich ihn richtig verstanden habe, nicht für uns, sondern für unsere 'Frauen'.


Ich liebe die kyrillische Schrift! Das Essen bei McDo ist übrigens beängstigend günstig. Bei meinem einzigen Besuch einer russischen McDo-Filiale in Sankt Petersburg war der Laden übervoll mit Teenagern. Food desert, anyone?


Markante Gegensätze in Sankt Petersburg:


Herrliche russische Menschen



Mit Frau Ivanova auf einem wunderbaren Stadtrundgang durch Sankt Petersburg.



Bei Herr und Frau Ivanov zu Hause in Sankt Petersburg.


Mit Finn, Georg und Masha bei Luba und Alex.


Masha während ihres Konzerts in Moskau.


Alex beim Konzert von Masha.

Stadterneuerung: International Business Center Mockba

Einige wenige Kilometer westlich des historischen Zentrums der Stadt entsteht auf einem brach gefallenen Gelände das International Business Center von Moskau.

Bezüglich dieser Lage lässt sich die Moskauer City mit der Pariser Défense und Canary Wharf in London vergleichen: Alle drei Stadtteile liegen, jeweils etwas ausserhalb der historischen Stadtkerne dieser europäisch gewachsenen Städte, auf ehemaligen Industrie- und Gewerbeflächen. Das Geschäftsviertel der französischen Global City wurde jedoch bereits ab den 1960er Jahren gebaut, jenes in London ab den 1980er Jahren. Weitere 20 Jahre später folgt nun also die russische Megacity. Man erkennt unschwer, wohin die Entwicklung Russlands führen soll.


Die Architektur der Gebäude ist in den meisten Fällen zeitgemäss und wie im Foto oben ersichtlich sehr auf die Verwendung von Glas fokussiert. Globalisierte Turbokapitalismus-Architektur. Einige der Hochhäuser, wie beispielsweise der Naberezhnaya Tower (oben rechts) von ENKA Architekten aus Istanbul wirken meines Erachtens zwar wenig spektakulär, jedoch erfreulich elegant. Ich mag das. Der Imperia Tower (NBBJ Architekten) wiederum, welcher oben im Bild links zu sehen ist (das Gebäude mit elliptischen Formelementen), gefällt mir mit jeder Betrachtung weniger gut. Und Capital City, das merkwürdige, verschachtelte Duo in der Bildmitte (ebenfalls NBBJ Architekten), verstört mich irgendwie auch. Zuerst fand ich das mit gut 300 Metern zurzeit höchste Gebäude Europas spannend, weil neuartig. Aber nachdem dieser Effekt langsam verflogen ist, bleibt in erster Linie der Eindruck einer gewissen Lächerlichkeit. Zudem müsste sich mein Verstand noch an diese Form gewöhnen, denn im Moment wirken die beiden Türme auf mich so, als drohten sie einzustürzen.


Neben der Büronutzung - bekannte Firmen, die vor Ort präsent sind, sind u. a. IBM, Oracle, Citibank, KPMG, Toshiba, E.ON - sind auch Wohnungen, Hotels und verschiedene kommerzielle Nutzungen vorgesehen. Insbesondere bezüglich der Wohnungen unterscheidet sich die City meines Wissens relativ deutlich von den beiden älteren Stadterneuerungsprojekten in Paris und London - zumindest was deren Anfangsausstattung betrifft. Die Nutzungsmischung ist städtebaulich deutlich populärer als vor einigen Jahrzehnten. Und ich kann mir gut vorstellen, dass viele 'new Russians' gerne eine Wohnung oder ein Penthouse in der City erwerben wollen.

Leider ist mir nicht bekannt, inwiefern die Finanzkrise der letzten Jahre die Nachfrage nach Wohnungen in der Moskauer City beeinflusst hat. Ich vermute aber, dass der Effekt erheblich war und immer noch ist. Einige der Projekte wurden jedenfalls entweder unterbrochen - man sieht Baugruben und halbfertige Gebäude - oder aber sogar storniert. So zum Beispiel auch der Russia Tower, welcher mit über 600 Metern Höhe das zweithöchste Gebäude der Welt gewesen wäre.

Verkehrstechnisch wird der Distrikt insbesondere durch zwei neue Metrostationen sowie eine unmittelbar neben dem Komplex gelegene Anbindung an die Moskauer Stadtautobahn erschlossen.

Auch wenn mich die Architektur in etlichen Fällen nicht besonders zu überzeugen vermag, finde ich das Projekt als Ganzes doch sehr eindrücklich. Dies u. a. deshalb, weil hier wird mit hoher Geschwindigkeit - die Effekte der Finanzkrise einmal ausgenommen - der Anspruch Moskaus als eine der politisch und wirtschaftlich führenden Städte der Welt städtebaulich und symbolisch realisiert wird.



Die beiden letzten Fotos - aufgenommen von verschiedenen Fotografen - stammen von skyscprapercity.com.

Mittwoch, 23. März 2011

Sonntag, 20. März 2011

Cityscapes: Sankt Petersburg





Sapsan

Wie gesagt war ich die letzten paar Tage in Sankt Petersburg. Über das Hermitage habe ich ja bereits berichtet, und zum Wesen der Stadt werde ich mich auch noch äussern. Nun möchte ich jedoch noch ein paar Worte dazu verlieren, wie man heutzutage von Moskau nach Piter - so nennen viele Locals ihre Stadt - reist.

Einerseits bestehen natürlich immer noch die traditionellen Verbindungen: Flugzeug und Nachtzug. Ersteres ist mir prinzipiell eher unsympathisch. Der Nachtzug wiederum soll Kult sein und ist wohl auch heute noch die bevorzugte Reiseoption des gemeinen Russen. Nicht unvernünftig muss ich sagen, denn in 8 Stunden überbrückt man so wenn nicht elegant dann zumindest pragmatisch die Nacht. Zudem kommt der ausländische Gast auf solchen Reisen oft in Kontakt mit Russen: Sie teilen dann erfreut ihre Verpflegungen mit dem Fremden; sprich Vodka und etwas zum Beissen.

Obwohl mich die Aussicht auf ein gepflegtes Wässerchen sicherlich nicht erschaudern lässt, bin ich trotzdem auch am anderen Russland interessiert. Deshalb habe ich die 650 Kilometer mit dem ersten Hochgeschwindigkeitszug des Landes überwunden, dem Sapsan (Wanderfalke):


Dieser Zug - gebaut von Siemens - steht für mich wie wenige andere Dinge für das potentielle Russland der Zukunft. Ein zweites Russland wenn man so will, denn die Nachtzüge und die gemütliche Gastfreundschaft werden dadurch nicht verschwinden, zu gross und schwerfällig ist dieses eurasische Imperium. Der Sapsan steht eher für das turbokapitalistische Russland, ein Land, welches aufholen und wenn möglich überholen will. Was symbolisiert diesen Anspruch besser als Hochgeschwindigkeitseisenbahn? Es hat mich deshalb auch wenig verwundert, dass auf dem Cover des Informationsblattes, welches bei jedem Fahrgastsitz liegt, die Moskauer City abgebildet ist:


Nicht der Kreml, nicht die russischen Wäldern; nein, mit dem Sapsan fährt der russisch oder - noch schöner - international agierende Businessmann in hoher Geschwindigkeit in das Moskauer Finanzzentrum. Er könnte auch mit dem TGV in die Pariser Défense oder mit dem Eurostar in die Londoner Canary Wharf fahren. Oder mit der Maglev vom Flughafen ins Zentrum Shanghais. Was hier zum Ausdruck kommt ist ein in den letzten 10-15 Jahren entstandenes Russland, ein Russland, das mitreden will. Zur Moskauer City übrigens bald mehr an dieser Stelle...

Während der ersten 6-7 Minuten Fahrzeit ertönen im Sapsan permanent Durchsagen, selbstverständlich jetzt auf Russisch und Englisch. Man erfährt u. a. die Höchstgeschwindigkeit des Zuges (aufgrund der noch mangelhaften Gleisanlagen zurzeit 200 - 250 kmh) und wird darauf hingewiesen, dass das Servicepersonal während der Fahrt gerne eine Hotel- oder Taxireservation vornimmt. Derweil bestellte der idealtypische 'new Russian' vor mir im Bistrowagen schon um 13.45 Uhr reichlich Vodka. So viel Spass und Tradition muss sein.

Die Fahrten warn in beiden Richtungen jeweils auf die Minute pünktlich, der Service meines Erachtens sehr gut. Auch schön war die Rückkehr nach Moskau deshalb, weil sie mit großem Stolz zelebriert wird. Die Ansage im Zug lautet ungefähr: "Welcome to Moscow, capital of Russia!" Einmal ausgestiegen ertönt auf dem Bahnsteig ein Musikstück auf Moskau, herrlich. Man stelle sich vor, in Bern würde der Berner Marsch erklingen wenn man mit dem IC aus Zürich einfährt.

Wenn man zwischen den beiden (potentiellen) Globalcities unterwegs ist, sieht man übrigens nichts als das alte Russland:



Ich mag das übrigens genau so gerne, nicht das ich jetzt wieder als jämmerlicher Snob verstanden werde.

Freitag, 18. März 2011

Hermitage

Am Samstag war ich in Sankt Petersburg im Hermitage. Es gehört zu den größten Museen der Welt und beherbergt eine unüberschaubare Anzahl an Gemälden und anderen Kunstwerken. Der ausgestellte Teil der Sammlung wird v. a. im Winterpalast und den angrenzenden Gebäuden entlang des Neva-Embankments untergebracht.

Der Winterpalast ist eines der markantesten Gebäude im einer an ebensolchen Gebäuden nicht armen Stadt. Seine heutige äußere Erscheinung – der Palast existierte in kleineren und anderen Versionen schon länger – wurde Mitte des 18. Jahrhunderts in erster Linie vom italienischen Architekten Bartolomeo Rastrelli entworfen und entspricht wahrscheinlich am ehesten einer ‚russischen’ Version späten Barocks. Innen dominieren jedoch nicht nur Barock und Rokoko, sondern ebenfalls der Klassizismus; Katharina die Große soll, was innenarchitektonische Stile betrifft, ein ziemliches ‚Fashionvictim’ gewesen sein. Der Barock der Vorgängerzarin Elizabeth war ihrer Meinung nach Ende des 18. Jahrhunderts offensichtlich nicht mehr ‚comme il faut’. Wer kann es ihr verübeln? Allemal besser als die Vorliebe vieler russischer Zeitgenossen: Postmoderne Teufel.





Wo also heute unzählige Kunstwerke ausgestellt werden, residierten seit 1732 und bis zur kommunistischen Revolution 1917 die russischen Zare, von denen insbesondere Katharina die Große – und überaus Hässliche, by the way – die Sammlung begründete.

In der kurzen Zeit, die mir zur Verfügung stand, lief ich in heldenhafter Ausdauer die 2. Etage ab! Zwar ist der architektonische Prunk überwältigend und die gestalterische Technik etwa italienischer Renaissance-Maler beeindruckend, doch kamen bei mir rückblickend kaum tiefere Gefühle auf. Irgendwie bin ich wahrscheinlich ein mangelhaft gebildeter Kunstbanause, aber die ewigen religiösen oder kämpferisch-kriegerischen Inszenierungen wecken in mir einfach nicht viel. Auch Rembrandt nicht. Summa summarum verbinde ich das Hermitage deshalb eher mit den Adjektiven ‚prunkvoll’ oder ‚eindrücklich’ als mit ‚herzergreifend’ oder ‚begehrend’. Ich wähle van Gogh oder Picasso vor Rembrandt oder da Vinci. Ich wähle Mondrian oder Kandinsky vor Rubens oder Goya. Die Letzteren sind mir in der Malerei meist irgendwie zu alt. Ein ‚zu alt’, welches es bei der Architektur wiederum nicht in dieser Intensität gibt. Was gibt es beispielsweise Schöneres als das Pantheon in Rom?

Einen Besuch des Hermitage würde ich jedoch selbstverständlich trotzdem empfehlen. Impressionismus und was danach kam gibt es dort nämlich auch, nur konnte ich mir diesen Teil der Sammlung selbst nicht auch noch zumuten. Ebenfalls gefallen hat mir in Russland bisher einiges in der auf Russland fokussierten Tretyakov Galerie in Moskau (z. B. ‚Rye’ von Shishkin oder die ‚Unequal Marriage' von Pukirev) sowie eine Fotoausstellung mit den 365 besten Laienfotografien aus dem Russland des Jahres 2010. Sie findet jedes Jahr auf dem Kunstgelände Winzavod statt, welches nach Meinung meines Twentysomething-Russischlehrers absolut verachtenswert sei. Ich sehe das ganz und gar nicht so, denn die präsentierten Fotos lösten bei mir – im Gegensatz zum Hermitage – deutlich emotionalere Regungen aus. Das ist auch etwas wert, auch wenn der Connaisseur jetzt vielleicht einwenden würde, dass Regungen bei mir demnach auf einem vergleichsweise niederen geistigen Entwicklungsstand ausgelöst werden. Dem würde ich nicht widersprechen wollen und mich stattdessen wieder den farbigen Rechtecken Mondrians zuwenden.

Dienstag, 15. März 2011

Unterwegs in Moskau

In Moskau bin ich, wie 2,4 Milliarden andere Menschen auch pro Jahr (Stand: 2009), v. a. mit der Metro unterwegs. Die Moskauer Metro gilt als eine der 'schönsten' der Welt, viele ihrer Stationen gleichen Palästen. Und das wohl nicht zufällig: Den Stil des sozialistischen Klassizismus erhielten die meisten wichtigen Stationen in der kommunistischen Zeit unter Stalin. Er baute nicht nur unterirdische Paläste, sondern auch die sogenannten 'Sieben Schwestern'. Eine davon, die Lomonossov-Universität, ist die grösste Universität Russlands und auf einem Foto im letzten Blogeintrag abgebildet.

Es entsteht der Eindruck, dass, während andernorts der Siegeszug des Automobils bereits in vollem Gange war, in der kommunistischen Sowjetunion jener Zeit v.a. auf den öffentlichen Verkehr gesetzt wurde. Im Kapitalismus setzte sich das Individuum mit dem Automobil die Krone der Mobilität auf, im Kommunismus wiederum förderte die Führung das gemeinschaftlich-gesellschaftliche Fortbewegungsmittel Metro; klassenlose Gesellschaft siegt über das Individuum. Der Kommunismus hat also zumindest im Moskauer Untergrund bleibende Spuren hinterlassen. Man könnte wohl problemlos einen ganzen Tag damit verbringen, sich die prächtigsten Stationen der Moskauer Metro anzusehen.




Heute ist aber nicht mehr früher. Und das heisst: heute ist nicht mehr Kommunismus in Russland, auch wenn man auf dem Roten Platz beim Mausoleum von Lenin immer noch Gruppen von älteren Menschen sieht, die rote Fahnen über den Platz paradieren lassen. Seit einiger Zeit erlebt Moskau offensichtlich einen unheimlichen Boom im Individualverkehr. Abgesehen von Los Angeles kenne ich keine Stadt, in der so viel Verkehr auf den Strassen unterwegs ist. Das russische Wort für Stau: Probka! Fussgänger müssen meist Unterführungen benutzen, wenn sie eine der zahlreichen innerstädtischen und autobahnartigen Strassen 'überqueren' wollen.

Es sind ausserdem nicht nur einfach viele, sondern auch viele teure Autos unterwegs; Moskau gilt wohl nicht zu Unrecht als die Stadt der Milliardäre der Welt. Deshalb ist die Stadt sicherlich ein sehr interessanter Absatzmarkt für deutsche Automobilproduzenten - und für Lexus, die sieht man hier auch sehr oft. Dies auch deshalb, weil Autos anscheinend - viel stärker als in Westeuropa, insbesondere unter westeuropäischen Studenten und anderen urbanen Leuten in jenem Erdkulturkreis - ein sehr wichtiges Statussymbol darstellen. Wer etwas auf sich hält, fährt ganz sicher nicht Metro sondern Auto. Millionen oder Leasing sind die Stichworte in diesem Fall. Und weil die Wirtschaft Moskaus seit Jahren unheimlich schnell wächst, steigt auch die Zahl der Automobilisten rapide an. Damit kann der Ausbau der Infrastruktur nicht mithalten. Die Folge sind massive Staus und Strassenüberlastungen. Das scheint den Einheimischen jedoch relativ egal zu sein. Lieber Status im Stau als klassenlose 'kommunistische' Metro.



Bei meinen Autofahrten mit russischen Bekannten sind mir übrigens ein paar bemerkenswerte Dinge aufgefallen:

- Es wird geheizt bis zum Limit. Aussen herrschen harsche Minustemperaturen, innen mindestens 25 Grad. Gerne auch mehr. Man schätzt hier einfach den vermeintlichen Komfort, die Umwelt ist absolut kein Thema. Eine Begründung war auch: "Wenn ich weniger heize kann ich nicht mehr durchs Fenster sehen, denn dann beschlägt die Scheibe."

- Das die Umwelt kein Thema ist, zeigt sich auch daran, dass der Motor bei Standzeiten nicht ausgeschaltet wird. Als ein Bekannter das Auto für 5-10 Minuten verliess um in seine Wohnung zu gehen, hat er den Motor selbstverständlich nicht ausgeschaltet. Niemand sass in dieser Zeit im Auto, aber er wollte nicht, dass sich das Radio ausschaltet. Schön.

- Wenn ich mich auf der Rückbank anschnalle, kommt dies einer Beleidigung des Fahrers und dessen Fahrkünsten gleich. Wir waren jedenfalls die ersten Passagiere auf der Rückbank, die sich überhaupt jemals angeschnallt haben.

- Auf der MKAD, der immensen Ringautobahn um Moskau, gibt es Bushaltestellen. I like it. Ist dies der Grund, weshalb die regionalen Autobahnen Gerüchten zur Folge immer noch nicht europäischen Standards genügen?

- Oder sind es die Fussgängerstreifen, die über eine Ausfallautobahn aus Moskau hinaus ins Umland führen?

- Wer in einen Klub will, der an der Tür harte Moskauer 'Feis Kontrol' pflegt, sollte - so wurde mir erzählt - üblicherweise besser in einem Auto vorfahren und nicht zu Fuss kommen. Das ist für Loser. Ausländer haben aber anscheinend immer noch Privilegien, die gelten a priori als zumindest tendenziell reich.

Freitag, 11. März 2011

Fussball in Moskau

Gestern erwarb ich einen weiteren Länderpunkt in meiner wichtigsten Buchhaltung: dem Fussball. Es ging mir allerdings nicht nur um den prestigeträchtigen Länderpunkt, sondern auch um eine authentische Moskau-Erfahrung: Live-Fussball bei strengen Minustemperaturen!


Gespielt hat mein favorisierter russischer Klub (ZSKA Moskau) gegen den Champions-League Sieger von 2004 - den FC Porto. ZSKA mag ich u. a. deshalb besonders, weil ein gewisser Herr Doumbia für den Zentralen Sport Klub der Armee Moskau stürmt. Seydou Doumbia hat seine zwei Spielzeiten bei den Young Boys Bern zweimal als Topscorer der Liga abgeschlossen und ist danach in die russische Hauptstadt gewechselt. Ferner dürfte den Fussballinteressierten ebenfalls interessieren, dass der sympathische Chelsea-Boss Roman Abramovitch ebenfalls hinter ZSKA Moskau stand...

Heute stehen im Kader der Moskauer neben Doumbia auch so klangvolle Namen wie Vagner Love, Keisuke Honda und der russische Nationaltorwart Igor Afinfeev. Zudem zieht im offensiven Mittelfeld der junge Alan Dzagoev die Fäden, ein Spieler, von dem man noch mehr hören dürfte in Zukunft!


Spielen tun die Rotblauen im Luzhniki-Stadion, der monumentalen Hauptspielstätte der Olympischen Sommerspiele 1980. Im früheren 'Zentralstadion Lenin' und Austragungsort des Finales der Fussball-WM 2018 kommen heute zirka 80'000 Menschen unter. Nicht überraschend ist jedoch die Tatsache, dass das Stadion bei ZSKA-Spielen eher selten voll besetzt ist, um es schüchtern auszudrücken. So auch beim Spiel gestern gegen den FC Porto. Ein Grossteil des Stadions wurde für die Zuschauer gar nicht erst geöffnet:


Das Spiel selbst war dann leider auch relativ unspektakulär, nicht zuletzt auch wegen des Schlussresultats von 0:1. ZSKA hatte zwar flott begonnen, Dzagoev spielte einige Zuckerpässe und Doumbia vermasselte ein paar Torchancen. Doch mit der Zeit übernahm Porto immer mehr die Spielkontrolle; man sah den Portugiesen an, dass sie in der heimischen Liga in bisher 22 Spielen noch keine einzige Niederlage wegstecken mussten. Der neue Mourinho - André Villas-Boas - macht offensichtlich hervorragende Arbeit. Trotzdem wussten sich die Fans warm zu halten:


Übrigens: Der Frauenanteil unter den Zuschauern scheint in Moskau deutlich tiefer zu sein als zum Beispiel bei den modischen Young Boys oder in Mailand. Hier sind, so seltsam es klingen mag, die Rollen zwischen Männern und Frauen noch klarer getrennt. Eine russische Frau, die keine Slim-Zigaretten sondern normale Zigaretten raucht, habe ich bis jetzt beispielsweise auch noch nicht gesehen. Pelz gilt auch nicht als verwerflich sondern als Muss. Es ist spannend, wie aus west-europäischer Sicht möglicherweise veraltete Normen auf hypermoderne Globalisierungskultur trifft. Eurasien halt. Oder so.