Montag, 26. September 2011

Schillerkiez im Wandel


Vor wenigen Wochen tranken wir auf unserer "Tour de Berlin" ausgezeichneten Kaffee in Schöneberg. Gestern wollten wir in Erfahrung bringen, was man im Neuköllner Schillerkiez an Gaumenfreuden finden kann. Die Antwort vorne weg: Federweisser. Dass dies allerdings so ist, sagt uns einiges über die Entwicklung dieses Kiezes. Doch der Reihe nach.

Um 1900 entstand der Schillerkiez mit der zentralen Schillerpromenade als prestigeträchtige Wohnlage für Einwohner Neuköllns, damals meines Wissens noch Rixdorf genannt. Während einigen Jahrzehnten schien das Gebiet zu prosperieren. In den 1920er Jahren nahm direkt neben dem Quartier der Flughafen Tempelhof seinen Betrieb auf. Mit Zunahme des Verkehrs wurde der Schillerkiez nach dem Zweiten Weltkrieg zunehmend zu einem "Problemviertel" - wie die meisten zentralen Gegenden des Bezirks Neukölln. Erheblicher Fluglärm sorgte für eine Abwertung der Liegenschaften, Besserverdienende zogen weg, Immigranten und benachteiligte Bevölkerungsschichten rückten nach. Die Folge: Der Schillerkiez wurde vom Kapital gemieden; die Spuren davon sieht man noch heute an vielen Stellen.


Ende 2008 schloss der Flughafen. 2010 öffnete auf dem Gelände die Tempelhofer Freiheit. Spätestens wenn man an einem prächtigen Herbsttag 2011 in westlicher Richtung die Herrfurthstrasse entlang geht und sich am Horizont die Weite des Feldes ankündigt realisiert man, dass ein Immobilienentwickler in so einem Moment ein Gefühl einer religiösen Erleuchtung haben muss: der vernachlässigte Kiez ist eine Goldgrube! Keine Mauer mehr, keine Flugzeuge mehr, stattdessen der neue "Central Park"Berlins (Berliner Tageszeitung) vor der Haustüre. Und dazu ein relativ nahes Stadtzentrum, wilhelminische Bausubstanz, eine gesunde Nähe (lies: günstige Anbindung) zum neuen Flughafen BER in Schönefeld und - zumindest bis vor sehr kurzer Zeit - vielversprechend tiefe Mieten.


Das ehemalige Flugfeld, so gesehen vom Eingang an der Herrfurthstrasse, gleicht heute einem grenzenlos überdimensionierten Spiel- und Experimentierplatz. Sport, Spiel, Barbecue, Gärten und die Möglichkeit zum offenen Denken und freien Träumen. Die aus verschiedenen Schichten und Herkunftsländern stammenden urbanen Gärtner sind dabei ein schönes Beispiel dafür, was in der heutigen Zeit passieren kann, wenn man eine freie Fläche quasi durch die städtische Bevölkerung selbst entwickeln lässt. Stichworte, die ich an dieser Stelle ins Spiel bringen kann sind etwa "partizipative Planung" und "Lernen und Zulassen von Informalität". Und obwohl ich kein Planer bin würde ich - gerade auch im Angesicht des Tempelhofer Feldes - spontan dazu tendieren, eine Raumplanung mit klaren Rahmenbedingungen und der Möglichkeit zu inhaltlicher Kreativität und "bürgerlicher Beteiligung" zu unterstützen. Wo früher Flugzeuge starteten, wachsen heute jedenfalls selbst gepflanzte Gemüse und Blumen.


Was bei so einer Entwicklung aber auch wächst ist die Sorge nach Gentrifizierung. Ich selbst betrachte Gentrifizierung bis zu einem gewissen Grad zunächst einmal als neutral. Wie will man anders - als Schweizer? In den Medien und in der gegenwärtigen Volksmeinung ist die Gentrifizierung jedoch des Teufels. Wobei man auch hier präzisieren müsste: Viele der vermeintlich unmittelbar Betroffenen kennen das Phänomen womöglich gar nicht. Stimmung gemacht wird eher von Seiten (gut) ausgebildeter, junger Stadtbewohner als von der türkischen Familie in der günstigen Wohnung im Schillerkiez.

Wir machten uns jedenfalls auf die Suche nach physischen Indikatoren einer möglichen Gentrifizierung und wurden wenig überraschend auch schnell fündig: bei einem Glas Federweisser im Engels! Der transnationale Kreative, Mitglied der vierten sozialen Klasse im Schillerkiez nach dem preussischen Bürger, dem deutschen Arbeiter und dem türkischen Immigrant, kann hier standesgemäss bis in den Nachmittag hinein frühstücken. Oder eben wie wir, selbst alles andere als frei von Schuld, ein Gläschen Federweisser trinken und dabei auf den türkischen Kiosk oder die Alt-Berliner Kneipe hinüber schauen.



Im Schillerkiez existieren zurzeit drei soziale Parallelwelten. Schade nur, dass dies in der langen Frist kaum noch so sein wird. Und ebenso schade, dass man bereits heute deutlich erahnen kann, welche Parallelwelten verschwinden werden. Das Leben ist ein Spiel, mit vorbestimmtem Resultat. Oder doch nicht? Vielleicht sollte die Rolle eines Stadtgeographen darin bestehen, in diesem Entwicklungsprozess für gesellschaftlich positive Überraschungen zu sorgen.

Freitag, 23. September 2011

Urban Scenes 2011


Grime from London...




...hitting Berlin-Kreuzberg 36!







Es ist doch interessant, dass bestimmte Arten von Musik zu bestimmten Arten von Stadt passen. Nein, zu bestimmten Bildern von Stadt eigentlich, denn was man oben auf dem Fotos sieht ist nicht eine Art von Stadt. Es sind Bilder einer Stadt, wie sie der Betrachter sehen will, damit sie in seinem Kopf zu den Klängen der Musik passen. Der Betrachter hat eine Vorstellung eines Zusammenhangs, und mit der Software verändert er ein Abbild eines Ausschnitts einer (!) Realität nach seinen Ideen. Noch besser ist, dass der Betrachter danach die Möglichkeit hat darüber zu reflektieren. Oder wie der Philosoph J. S. Mill gesagt hätte: "Es ist besser ein unzufriedener Mensch zu sein als ein zufriedenes Schwein; besser ein unzufriedener Sokrates als ein zufriedener Narr." Das hat zwar etwas, aber ich würde es dann doch nicht unterschreiben wollen.

Donnerstag, 22. September 2011

Cityscapes: Mexico City







Die Fotos - aufgenommen von verschiedenen Fotografen - stammen von skyscrapercity.com.

Mittwoch, 21. September 2011

Wahlen in Berlin: Kapitalismus


Nicht lange ist es her, da habe ich von den Wahlen in Berlin berichtet. Jetzt sind die Resultate da und ich möchte nochmals auf das Thema zurückkommen, jedoch in möglicherweise etwas abwegiger Art und Weise. Doch der Reihe nach.

Die drei interessantesten Resultate sind:
  • Wowereit bleibt Bürgermeister (bald wohl: "reich, aber immer noch sexy")
  • die Piraten holen in der deutschen Hauptstadt 9% der Stimmen und haben anscheinend zu wenig Personal um diese 9% zu besetzen
  • die unsägliche NPD holt mit 2,1% mehr Stimmen als die FDP mit 1,8%
Das ist Berlin. Und das soll man noch verstehen, Herr Wowereit?


Wie dem auch sei, ich habe sowieso wenig Ahnung von Berliner Politik und halte es hier und auch sonst gerne mit Sokrates. Trotzdem möchte ich jetzt mal noch einen Giftpfeil abfeuern, schliesslich musste der Weise 399 vor Christus auch zum Giftbecher greifen, was mich noch heute empört (P.S. Kriegen die Griechen heute die späte Strafe? / P.P.S. Hessel sagt ich soll mich empören, also keine Klagen!).

Heute morgen auf dem Weg zur Arbeit habe ich nämlich festgestellt, dass die Wahlplakate immer noch überall hängen - dies obwohl die Wahlen bekanntlich seit Sonntag erledigt sind. Dies festzustellen ist zugegebenermassen kein Ding von Schwierigkeit, hängen sie doch wirklich überall. Was aber sagt uns das?

Es gibt bekanntlich die Methode "Gewinne privatisieren, Verluste sozialisieren". Diese Methode hört man in diesen Zeiten, meines Erachtens, besonders regelmässig aus dem linken Lager und gegen Banken gerichtet. Zurzeit manifestiert sie sich jedoch auch auf den Strassen Berlins: Wahlplakate werden, mit dem Ziel Gewinn zu privatisieren (ergo: politische Macht für die eigene Person oder Partei zu erlangen) in grossem Umfang von privaten Akteuren im öffentlichen Raum angebracht. Die Wahlplakate haben zu diesem Zeitpunkt einen potentiellen Wert für die darauf angepriesenen Akteure, ein Wert, der denjenigen des Materiellen (ergo: Pappe etc.) potentiell deutlich übersteigt. Mit dem Zeitpunkt der Wahl und deren Abschluss verlieren die Wahlplakate augenblicklich den überwiegenden Teil ihres Wertes, sie sind nunmehr praktisch wertlos. Was ist somit zu erwarten? Sie bleiben hängen. Die Gewinne sind nunmehr privatisiert, der Verlust - oder präziser: das Wertlose (das reicht in diesem Fall schon aus) - wird sozialisiert; die kommunale Berliner Stadtreinigung kann die Entsorgung der Plakate in Angriff nehmen.


Gemessen an den noch hängenden Plakaten lässt sich kein Unterschied zwischen den politischen Lagern ausmachen. Ich sehe keine Mitglieder der Grünen, die die Verluste vor der Sozialisierung bewahren. Aber was nicht ist, kann bekanntlich noch werden. Ich glaube daran.

Samstag, 17. September 2011

Cityscapes: Dubai







Die Fotos - aufgenommen von verschiedenen Fotografen - stammen von skyscrapercity.com.

Mittwoch, 7. September 2011

Electronic Music Journeys


Resident Advisor, ein Informations- und Unterhaltungsportal erster Güte für elektronische Musik und Clubkultur, hat vor nicht allzu langer Zeit eine Serie von Videos über Städte und deren elektronische Musikszenen gestartet. Wer regelmässig mein Blog besucht weiss, dass ich sehr viel Wert lege auf die Verknüpfungen von Stadt und Musik. Und da ich die drei bisher entstandenen Filme als durchaus empfehlenswert beurteile, möchte ich an dieser Stelle unbedingt darauf aufmerksam machen.

Was ich beispielsweise bemerkenswert - aber keineswegs überraschend - finde, ist die Zunahme an "Hipstertum" von Detroit über Bristol bis Berlin. Wenn ich mir einen Beitrag wünschen dürfte, dann wäre es, glaube ich, erstmal Neapel. Etwas wunderbar abseitiges und nicht so offensichtliches wie wohl bald Chicago, London, NYC oder Glasgow. Hamburg wäre auch schön! Ich liebe den Deep House der Hansestadt. Aber egal jetzt, schaut euch die Beiträge an!

Real Scenes: Bristol from Resident Advisor on Vimeo.


Bristol ist seit Jahren ein Reiseziel von mir. Ich muss es endlich mal dorthin schaffen! Kann doch nicht so schwierig sein...

Real Scenes: Detroit from Resident Advisor on Vimeo.


Kyle Hall ist die Zukunft. Mike Huckaby ist ein Held. Kauft euch alle seinen Remix von "Change" von Norm Talley von der EP "Detorit Beatdown Remixes 1:1". Pure Bliss! Pure Detroit! Pure Space! Pure Love! Und wer jetzt sagt "Geht ja nicht ab Dicker!" schick' ich zum Mond.

Real Scenes: Berlin from Resident Advisor on Vimeo.


Ach, Börlin.


Und übrigens, die Serie sollte wie oben angedeutet fortgesetzt werden. Am einfachsten hier.

Dienstag, 6. September 2011

Wahlen in Berlin: Unterste Schublade


Am 18. September finden in Berlin die Wahlen zum Abgeordnetenhaus von Berlin statt. Hierbei wird auch der Regierende Bürgermeister der Stadt gewählt; ein Amt, dass seit der Kleinen Eiszeit von Klaus "Arm aber Sexy" Wowereit besetzt ist. Ich will nun allerdings nicht einen politischen Überblick leisten. Dazu bin ich offen gesagt auch nicht in der Lage. Was ich aber kann, ist über Vollpfosten berichten.

In Deutschland existiert seit den 1960er Jahren die Nationaldemokratische Partei Deutschlands, kurz NPD. Wikipedia schreibt, dass die Partei eine nationalistische, völkische und revanchistische Ideologie vertrete, welche sowohl programmatisch als auch sprachlich der Ideologie der NSDAP eng verwandt sei. Wer die NSDAP führte brauche ich, glaube ich, nicht zu erwähnen.

Als ich nun vor ein paar Tagen im Berliner Bezirk Prenzlauer Berg auf dem Weg zur Arbeit das Wahlplakat der NPD erspähte, traf mich fast der Schlag. Da sitzt doch tatsächlich ein Halbaffe auf seinem Motorrad und darunter steht in grossen Lettern: "GAS geben!" Und das von der ideellen Nachfolgepartei der Nazis der NSDAP. Das Plakat hing überdies auch in unmittelbarer Nähe zum Jüdischen Museum in Berlin. Das ist - ich kann zu keinem anderen Schluss kommen - das erbärmlichste und armseligste was ich seit Jahren gesehen habe.


Als ich das Foto heute für das Blog fotografieren wollte, war es bereits nicht mehr da. Deswegen habe ich es einem andern Blog entnommen. An fast identischer Stelle, wo vorher der Halbaffe GAS geben wollte, hängt jetzt allerdings das folgende Plakat:



Als ich im August zu Hause in der Schweiz war und das SVP-Plakat sah ("Masseneinwanderung stoppen!"), wurde mir schon mulmig in der Magengegend. Das Gefühl wurde noch dadurch verstärkt, dass sich eine Gruppe junger Frauen, offensichtlich touristische Besucherinnen aus dem Ausland, befremdet über das Plakat unterhielt. Es war einer dieser Momente klassischen Fremdschämens. 

Glücklicherweise hängen die Plakate der NPD, im Gegensatz zu denen der SVP, aber kaum je länger als ein paar Stunden oder Tage. Dann werden sie wieder abmontiert. Es ist somit wohl auch kein Zufall, dass das Plakat vom Fliegenden Teppich fast unter der Glühbirne der Strassenlaterne hängt. So gewinnt die NPD ein paar Stunden, bevor jemand ganz nach oben klettert.

Wie dem auch sei. Die meisten Plakate, auch der grossen Parteien, können mich nicht überzeugen. Diese Meinung teilt auch mein Kollege Renard, der darüber auf seinem Blog geschrieben hat (hier!). Eine Ausnahme gibt es aber: die nachfolgende Serie von Plakaten empfinde ich als gelungen, gar köstlich amüsant. Sie treffen den Nagel auf den Kopf und stammen von der Kampagne Steigende Mieten stoppen!, quasi dem politischen Gegenpol der NPD. Smile for the camera, liebe SPD, Linke und Grüne.





Sonntag, 4. September 2011

Berlin-Schöneberg: zwischen Sozialpalast und dem besten Kaffee der Stadt


Wir haben uns kürzlich entschieden, jeden Bezirk Berlins mindestens einmal besuchen zu wollen. Kein Zuckerschlecken in einer Stadt mit 3.5 Millionen Einwohnern. Aber wer Stadtgeographie studiert muss erkunden.

Zwar waren wir schon mehrmals im berühmten KaDeWe, aber das reicht einfach nicht, wenn man behaupten will, Schöneberg gesehen zu haben. Deshalb zogen wir am Samstag los in den Bezirk, der - wie manche wohl nicht ganz zu recht behaupten - sowohl geographisch als auch kulturell zwischen Kreuzberg und Charlottenburg liegt. Wenn man ankommt, sieht man das:



Bunker, Satellitenempfänger und strenge Geometrie sorgen bei mir aber nicht für Ablehnung, sondern für Freude. Willkommen im Sozialpalast!

Schöneberg hat aber, wie die meisten Bezirke in einer von Kriegszerstörung und Wiederaufbau gezeichneten Stadt, mindestens zweierlei Gesichter. In Gehdistanz erspäht der Stadtwanderer nicht nur Betonmoderne, sondern ebenso typische Berliner Wohnbauten von Anfang des 20. Jahrhunderts. Besonders der auf dem untersten Foto abgebildete Viktoria-Luise-Platz von 1900 ist ein Prachtstück aus der baulichen Boomphase des Deutschen Kaiserreichs. Heute bildet er überdies den Ausgangspunkt für die Motzstraße, ein Zentrum der lesbisch-schwulen Community der Stadt.



Highlight unserer Stadtwanderung war indes ein Iced Galao. Die eisgekühlte Kaffeespezialität aus Portugal gibt es im Double Eye. Mein Kumpel Jürgen schwört seit Jahren, das Double Eye serviere den besten Kaffee Berlins. Irgendwann musste ich das ja prüfen! Und siehe da, der alte Mann hatte recht...