Mittwoch, 18. Januar 2012

Das andere Berlin


Ehe ich alles schon wieder vergessen habe - so läuft das mit meinem Kopf - möchte ich noch kurz über unseren sonntäglichen Spaziergang im Westen von Berlin berichten. Was heisst über den Spaziergang? Über das Gesehene und Ersonnene natürlich.

Wir entschieden uns, motiviert durch unseren Anspruch, jeden Bezirk mindestens einmal besucht zu haben, spontan für einen Ausflug nach Steglitz-Zehlendorf im Südwesten der Stadt. Man könnte auch schreiben: wir entschieden uns, in das andere Berlin zu fahren.

Vieles hier stammt aus der Zeit von 1900 bis 1910/1920; so auch unser Ausgangspunkt: der Bahnhof Berlin-Nikolassee. Das Gebäude würde man architekturhistorisch wahrscheinlich dem Historismus zuordnen, Wikipedia spricht trefflich von einer Bürgergotik. Herrlich - und wahr. 


Man staune nicht bloss über die wahnsinnige Architektur an sich, sondern ebenfalls über die Tatsache, dass man einen Bahnhof architektonisch so überschwänglich gestaltete. Offensichtlich hatte die Eisenbahn im Berlin dieser Zeit einen hervorragende Bedeutung. Anders lässt sich kaum erklären, dass ein Bahnhof aussieht wie eine Mischung aus Kirche und Schloss, traditionell Zentren von Ansehen und Macht. Aber nun gut, es war ja auch eine Zeit bürgerlichen Aufstrebens und massiver technischer Errungenschaften. Da kann ein Bahnhof oder eine Fabrik schon mal die Kirche oder das Schloss früherer Zeiten darstellen. Heute sind es ja die Bürotürme und Wohntürme grosser globaler Konzerne beziehungsweise rohstoffreicher und/oder prestigehungriger Städte. Wie dem auch sei: auf jeden Fall kein Vergleich zu dem beispielsweise gegenwärtig sich im Bau befindlichen Bahnhof am Ostkreuz, ein zweckmässiges und aktuelle Trends wie Transparenz wiederspiegelndes Bauwerk. Der Glanz der Bahn war ganz offensichtlich schon strahlender.

Schlendert man in östlicher Richtung durch die Strassen von Berlin-Nikolassee, präsentieren sich dem Flaneur derartige orts- und stiltypische Anblicke:


Die allermeisten Gebäude sind gross bis erschütternd gewaltig, aus meiner Sicht aber architektonisch oftmals misslungen. Allerdings, und das ist schon auch auffällig, sind die Range Rover bei weitem nicht repräsentativ. Viele der Autos entsprechen eher der kleinen bis mittleren Kategorie. Was soll das? Entweder sind die grossen Schlitten versteckt, oder aber die Dimension der Häuser passt in vielen Fällen heutzutage nicht mehr zur Dimension der Geldbeutel. Mit anderen Worten: die meisten solchen Häuser werden heute von mehreren Parteien geteilt, eher selten sieht man bei den Eingängen nur ein einziges Klingelschild und dafür mehrere dicke Schlitten. Die Häuser mögen also vielfach von zu Reichtum gelangten Grossbürgern gebaut und erworben worden sein. Aber was für 1910 galt, gilt nicht mehr unbedingt für 2012. Berlin geht es wirtschaftlich bekanntlich nicht blendend - in Frankfurt würden die Autos vor den Häusern vermutlich eher den Dimensionen der Häuser entsprechen. Abgesehen davon wüsste ich auch gerne, ob viele Leute, die es heute in Berlin zu Geld bringen, sich tatsächlich in dieser Gegend niederlassen wollen würden.

Sowieso stellte ich mir die Frage, wie die Leute denken und an was sie glauben; die Leute, die hier in Nikolassee oder Zehlendorf in einer Zwischenwelt aus Stadt und Wald leben. Mein Profil des typischen Bewohners, abgeleitet aus Landschaft, Architektur und Garten- sowie Grundstückszäunen, wäre: naturverbunden, traditionell bis konservativ in den Werten, interessiert an Geschichte und klassischer Bildung, nicht abgeneigt gegenüber der nicht allzu fernen städtischen Hochkultur (klassische Musikhäuser und Opern vor allem), auf Sicherheit, Ruhe und Besitzstandswahrung bedacht, mittleren bis höheren Alters, deutsch oder allenfalls russisch. Genau, Rechtsanwälte.



Nein im Ernst jetzt. Mir gefällt die Gegend - einerseits. Andererseits fühle ich mich in derartigen Gegenden manchmal etwas beunruhigt. Es wirkt alles fast zu harmonisch und vor allem zu homogen. Was versteckt sich dann hinter den Fassaden, wenn an der Oberfläche alles super ist?

Jedenfalls regt ein ausgedehnter Spaziergang durch die Pracht und Nostalgie im Südwesten Berlins zu allerlei Gedankengängen über die Stadt und die Welt an. Und am Ende erwartet den Erschöpften nochmals ein Höhepunkt der grundsätzlich schon reichen städtischen Bahnhofsarchitektur: der Bahnhof am Mexikoplatz in Berlin-Zehlendorf. Ein Prachtstück des Jugendstils! Und ein Symbol der Avantgarde für den aus Nikolassee eintreffenden Stadtwanderer.