Heute möchte ich jemandem recht geben. Ich stimme nämlich völlig zu, wenn Anja Schwanhäußer im Buch 'Der Sound der Stadt - Musikindustrie und Subkultur in Berlin' postuliert, dass Techno die "geeignete und privilegierte Form (ist), den Weiten des Ost-Berliner Stadtraums zu begegnen."
Ich pflege diesen Weiten glücklicherweise täglich zu begegnen. Es erscheint deshalb nur vernünftig, dass ich bei diesen Begegnungen auch auf die korrekte Form zurückgreife: Techno. Ich verstehe Techno in diesem Zusammenhang aber als Quelle eines Fluidums oder, in anderen Worten, als einen Erzeuger einer bestimmten Atmosphäre. Es geht hier also weniger um Techno als klanglich definierten Musikstil, sondern zuallererst um das schwierig zu beschreibende Fluidum, das ausgelöst wird.
Auf dieser Grundlage schliesse ich drei relativ unterschiedliche, mit Techno im engen Sinne bloss mehr oder weniger verwandte musikalische Kompositionen in meine Empfehlungen des Tages ein; Empfehlungen, wie man Ostberlin begegnen könnte. Gemein ist allen drei, dass sie a) von in Berlin lebenden Künstlern erschaffen wurden, b) absolut zeitgenössische Arbeiten darstellen und c) natürlich allesamt in der Lage sind, dieses Fluidum auszulösen.
1) ECM ist ein sehr renommiertes deutsches Musiklabel für insbesondere Jazz und weitere Musikrichtungen. Nun haben Ricardo Villalobos, der nun wirklich keiner Vorstellung bedarf, und Max Loderbauer (u. a. Mitglied im von mir geschätzten Moritz Von Oswald Trio) Neubearbeitungen einiger Stücke aus dem Backkatalog der Münchner produziert. Das Ergebnis ist natürlich sehr spannend und hörenswert. Und ja, auch das hängt für mich atmosphärisch in gewisser Art und Weise mit Techno zusammen.
2) Nick Höppner ist eine Hälfte von MyMy und stark involviert bei Ostgut Ton, dem, sagen wir mal, eng mit dem Berghain verknüpften Label. Beim Fact Magazine gibt es ein kostenloses und durchaus gefälliges Mixtape von ihm. Und was symbolisiert Ostberlin seit ein paar Jahren nachhaltiger als Berghain/Ostgut Ton? In Amerika, so habe ich munkeln gehört, sagt man nämlich nicht mehr "It's great!". Man sagt: "It's so berghain!" Läppisch, aber egal.
3) Wenn die Begegnung mit dem Stadtraum einem Driften entspricht, dann kann ich ganz besonders das neue Album von Bruno Pronsato empfehlen. Adjektive, die mir spontan in den Sinn kommen bei seiner Musik: elegant, rhythmisch, lässig, hypnotisierend, betörend. Ach was, egal: Driften einfach! Besonders schön wird es jeweils auch, wenn Ninca Leece zu hören ist. Ihr gemeinsames Album als Public Lover sollte meines Wissens übrigens auch bald einmal erscheinen. Dieses Album empfehle ich auch ungehört jetzt schon. Wer nicht warten kann: Public Lover Podcast bei Little White Earbuds!
P.S. Eindrücklich, wie man einfache Dinge kompliziert verpacken kann, nicht wahr? Ich hätte auch bloss sagen können: Dies sind meine drei musikalischen Empfehlungen, die meines Erachtens gut zum aktuellen Wesen Ostberlins passen. Aber dann verstehen es alle, und das kann nicht Sinn und Zweck sein in einer auf geistige Fähigkeit ausgerichteten Leistungsgesellschaft. Aber jetzt wird es schon wieder heikel. Abermals gute Nacht jetzt.