Samstag, 25. Juni 2011

Stadtentwicklung in Kreuzberg

Seit Anfang Juni arbeite ich nun für einige Monate bei einem tollen Berliner Büro für Stadtentwicklung und -forschung. Vorbei ist das wundervolle Studentenleben! Und dementsprechend reduzieren sich natürlich auch die Möglichkeiten zum privaten Bloggen. Doch heute möchte ich die sich bietende Gelegenheit ergreifen und von einer konkreten Erfahrung aus meiner letzten Arbeitswoche berichten.

Eine meiner Kernaufgaben ist die Mitarbeit an einer Potentialanalyse (Fokus: Besucher / Touristen) für den Wrangelkiez im Berliner Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg. Dieser Kiez befindet sich ganz in meiner Nähe und liegt im östlichen Kreuzberg. Sein Herz bildet das Schlesische Tor, welches in der nachfolgenden Karte oben links abgebildet ist. Von hier aus führt die bekannte Oberbaumbrücke über die Spree hinüber nach Friedrichshain. An seinem südlichen Ende grenzt der Kiez an den berüchtigten Görlitzer Park; im Osten verlief einige Jahrzehnte lang eine massive, unsägliche Mauer.


Durch seine Lage im unmittelbaren Mauergebiet stand der Wrangelkiez lange Zeit im stadtentwicklungspolitischen Abseits. Er lag zwar einerseits im kapitalistischen West-Berlin, jedoch andererseits direkt an der Grenze zu der realsozialistischen Bedrohungszone. Mit anderen Worten: Der Kiez war kein Raum für langfristige Investitionen und ambitionierte Wertschöpfungsstrategien.

Nicht zuletzt deshalb zogen v. a. Alternative und Ausländer (sprich: überwiegend türkische Gastarbeiter und deren Familien) in die zunehmend prekären Altbauten in Kreuzberg 36. Im Schatten der Mauer entwickelte sich ein lokalspezifisches Milieu und die bekannte 'Kreuzberger Mischung' aus Wohnen und kleinen Produktions- und Handwerksstätten sowie Kulturbetrieben. Kreuzberg 36 und damit der Wrangelkiez wurden auf diese Weise zu einem Ort alternativer sozial-politischer Strömungen und Gruppierungen; zum Beispiel die unheimlich gefährlichen und wahnsinnigen Punks.

Nun ist bekannt, dass die Mauer seit über 20 Jahren abgetragen ist. Das bedeutet: die Stadt hat eine sehr stark strukturgebende Komponente verloren - um nicht zu sagen: abgeschafft - und bot deshalb in diesen beiden vergangen Jahrzehnten Raum für massive Veränderungen. Auch die ehemalige 'Insel Wrangelkiez' - gestern im Niemandsland, heute zentral gelegen - verändert sich gerade in den letzten Jahren mit zunehmender Geschwindigkeit. Der Kiez ist heute hip! Zwar gibt es noch die Alteingesessenen, aber sie registrieren bei ihrem Spaziergang durch den Kiez heute zunehmend szenige Kneipen und Clubs (z. B. Watergate) sowie verdächtige Firmenanschriften (z. B. Beatport oder Native Instruments). Und sie begegnen dabei zu jeder Tages- und Nachtzeit Horden von Hipster-Touristen oder Leuten wie mir. Leute die zwar hier wohnen, dies aber a) erstens seit relativ kurzer Zeit tun und b) die erwähnten szenigen Kneipen besuchen und deren Existenz zumindest grundsätzlich begrüssen.


Der Wrangelkiez befindet sich demnach in einem Prozess der Gentrifizierung: ein Stadtteil erfährt eine sozioökonomische Umstrukturierung mit ökonomischer Aufwertung und im Zuge dessen werden Gruppen mit niedrigem Sozialstatus (also oftmals Arme, Alte und Ausländer, das Triple A) verdrängt. Denn dieser Prozess bedeutet ohne entsprechende Gegensteuer auch steigende Mieten - und Berlin ist eine Stadt mit vielen Mietern, die sich überdies vergleichsweise tiefe Mieten gewohnt sind; die Veränderungsmöglichkeiten 'nach oben' sind deshalb prozentual gesehen sehr hoch.

Dies also ist kurz gesprochen die Basis für unsere Studie. Und es war auch die Basis für eine Veranstaltung, die ich im Rahmen meiner Tätigkeit letzten Donnerstag besucht habe. Der Anlass hiess 'Kiez im Wandel' und es diskutierten u. a. der Bezirksbürgermeister von Friedrichshain-Kreuzberg sowie interessierte Anwohner. Doch an Diskussion war erstmal nicht zu denken: die ersten 40 Minuten des zweieinhalbstündigen Runden Tisches waren Ausdruck der 'Kreuzberger Mischung'. Kaum wollte nämlich einer der anwesenden politischen Vertreter etwas erläutern, fiel im sogleich jemand lautstark und beleidigend ins Wort: Alteingesessene, Hausbesetzer, whatever. Der grüne Bürgermeister erinnerte mich an den Helden einer griechischen Tragödie, und Teile des Publikum wollten seinen Untergang sehen - um jeden Preis.

Zuerst dachte ich: "Herr im Himmel, schenke diesen armen Leuten Gnade! Sie sind offensichtlich unfähig und gehören von ihrem Leid erlöst. Weise ihnen den Weg zur Vernunft. Dann können wir hier vielleicht irgendwann doch noch diskutieren." Doch irgendwann musste ich realisieren, dass diese Menschen eben gerade das zumindest teilweise ausmachen, was den Wrangelkiez im Grunde herrlich macht: Unangepasstheit, Kampf gegenüber den Mächtigen und deren Konventionen, radikales Anderssein, alternative Lebensentwürfe.

Mit der Zeit entstand dann doch eine halbwegs normale Gesprächskultur und es wurde heftig über steigende Mieten, Lärm und Lebenspläne gestritten. Wobei zu beobachten war, dass die Anwesenden gerade beim Thema der Mietproblematik eine annähernd identische Meinung vertraten, nämlich diejenige, welche in der Regel der politischen Linken zugesprochen werden kann. Vertreter von Investoren, welche die lokalen Liegenschaften kaufen, renovieren, aufsplittern und danach mit hoher Rendite wieder an zahlungskräftigere Leute verkaufen, waren jedenfalls keine auszumachen. Sie sind für die meisten Bewohner wahrscheinlich sowieso grundsätzlich unsichtbare und ungreifbare böse Geister, die weit weg in gläsernen Bürotürmen sitzen und dort versuchen, ihre Geschäfte in der Form von Fondsanteilen mit versprochener 10%-Rendite potentiellen Anlegern schmackhaft machen.

Ich war im Angesicht so hoher Komplexität erstmal dem geistigen Knockout nahe. Dann wurde mir aber abermals noch klarer, dass Stadtentwicklung nicht bloss von zentraler Hand geplante Entwicklung nach kapitalistischer Verwertungslogik heissen sollte. Zumindest nicht überall, denn Berlin würde unheimlich viel Qualität und auch Attraktivität (!) verlieren, wenn es all dies der Verdrängung preisgeben würde. Gleichzeitig steht die Stadt unter enormem finanziellen Druck und hat deswegen ganz offensichtlich Anreize, ihre Schuldenlöcher zu stopfen, was zumindest kurz- bis mittelfristig am besten dadurch gelingen dürfte, dass Liegenschaften an meistbietende internationale Investoren verkauft und der Tourismus nahezu uneingeschränkt gefördert wird.

Allgemeiner formuliert bin ich übrigens der Meinung, dass es von erheblichem Wert ist, zumindest ab und zu mit mit fremden und möglicherweise irritierenden Themen und Gedanken in Kontakt zu kommen. So wie beispielsweise an einer Veranstaltung mit Linksextremen oder von mir aus auch mit der SVP. Eine Tagung im Albisgüetli als Schule des Lebens oder Erweiterung des Horizonts - klingt verrückt, ich weiss. Aber im Kern geht es darum, die Positionen von unterschiedlichen sozialen und politischen Gruppen besser verstehen zu können.

Jedenfalls ist die Gemengelage für die Studie eine komplexe, genauso wie 'die Stadt' ein enorm komplexer Gegenstand ist, den radikal zu vereinfachen ganz gewiss grosse Risiken birgt. Wir werden sehen, welche möglichen Empfehlungen die Studie hervorbringen wird.