Dienstag, 9. März 2010

Die feinen Unterschiede

Eigentlich versuche ich mich immer noch an einer Hausarbeit für die Sozialgeographie. Aber bei der Literaturrecherche stosse ich immer wieder auf schöne Textpassagen, die mir den Fokus rauben. So geschehen zum Beispiel im Klassiker von Pierre Bourdieu - 'Die feinen Unterschiede - Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft'. Das Buch ist zwar ein Wälzer von schrecklichen 800 Seiten, dennoch finden sich darin - neben ausserordentlich anstrengenden Teilen - auch sehr süffisante Kapitel zur Distinktion der verschiedenen sozialen Klassen einer Gesellschaft. So kann das Buch zu einem wahren Selbsterfahrungsprozess avancieren.


Nachfolgend ein herrliches Textbeispiel zum Kleinbürgertum: „Bildung mit Wissen gleichsetzend, meinen sie [die Kleinbürger], ein Gebildeter sei, wer einen unermesslichen Schatz an Wissen besäße, und können es nicht fassen, verkündet er, dass Bildung in ihrer einfachsten und erhabensten Form sich reduziere auf den Bezug zu ihr (‚Bildung ist, was übrig bleibt, wenn man alles vergessen hat‘). Die Kleinbürger machen aus der Bildung eine Frage auf Leben oder Tod, und ahnen nicht im geringsten, welche unverantwortliche Selbstsicherheit, unverschämte Lässigkeit, ja versteckte Unaufrichtigkeit hinter jeder Seite eines inspirierten philosophischen, künstlerischen oder literarischen Essais steckt. Als Erwerbsmenschen können sie es sich nicht erlauben, mit der Welt der Bildung eine Vertrautheit zu kultivieren, die denjenigen alle Freiheiten und Kühnheiten einräumt, die ihr durch Geburt, also durch ihre Natur und ihr Wesen verbunden sind. (…) Die Disposition des Kleinbürgertums, die sich in seiner Beziehung zur Kultur ofenbaren – im Konformismus, der sich an Autoritäten und Verhaltensmuster klammert und sich ans Bewährte und als wertvoll Beglaubigte hält (Klassiker und literarische Preisträger z. B.), und in seiner Beziehung zur Sprache einer Tendenz zu Überkorrektheit und Rigorismus folgt, (…) –: diese Dispositionen manifestieren sich ebenfalls auf moralischem Gebiet als fast unersättlicher Hunger nach Verhaltensmassstäben und -techniken, mit deren Hilfe die gesamte Lebensführung einer strengen Disziplin unterworfen werden und Grundsätze und Vorschriften zur allseitigen Selbstbeherrschung führen sollen, und auch auf politischem Gebiet als respektvoller Konformismus oder vorsichtiger Reformismus, der das ästhetische Revoluzzertum schier zur Verzweiflung bringt.“

Na, wer erkennt sich wieder? Bourdieu bietet wahlweise auch die Klassen der älteren und neueren Bourgeoisie, der Intelektuellen oder der Unterschichten zur Selbstidentifikation an. Ich muss dann mal weiter lesen. Ich vermute, dass ich Züge der älteren Bourgeoisie, der Intelektuellen und auch des Kleinbürgertums vereine. Oder so ähnlich...