Freitag, 23. Dezember 2011

La Vie Bourgeoise


Vorgestern hatte ich mich im Sattler, dem Kiezkiller-Café in der Berner Länggasse, mit einem guten Freund getroffen. Wir unterhielten uns gepflegt über die Schweiz und über Berlin. Einvernehmlich kamen wir zum Schluss, dass eine bemerkenswerte Besonderheit Berlins darin liegt, dass diese Stadt nicht komplett dem bürgerlichen Leben verfallen ist. Klar: die These, wonach Berlin auch in den nächsten Jahren eine zunehmende Verbürgerlichung erfahren dürfte enthält nur ein geringes intellektuelles Wagnis. Wenn man auf der einen Seite Schweizer Städte wie Bern und auf der anderen Seite Berlin anno 2011 vergleicht, sind die Unterschiede aber dennoch frappierend. Flaniert der Besucher durch Berner Gassen und Straßen sieht er kaum Objekte oder Menschen, die von einer vereinfacht gesprochen "bürgerlichen Gleichförmigkeit" abweichen. Als Indikatoren dieses Phänomens mögen Art und Beschaffenheit von Autos und Kleidern sowie aber auch von Frisuren und Gesichtsausdrücken herangezogen werden.

Uns beiden gefällt die Tatsache, dass "la vie bourgeoise" in Berlin zwar auch gelebt werden kann, überdies jedoch ebenfalls mannigfaltige Optionen für andere Lebensstile greifbar sind. Als Angehöriger einer "nicht-bürgerlichen Klasse" muss sich ein menschliches Wesen in Berlin zumindest keineswegs als Alien führen; die Palette an Lebensentwürfen ist breiter als in Kleinstädten und solchen mittlerer Größe. Ein Mensch, der nicht arbeiten will? Ein Mensch, dem die Aussicht auf eine vorgezeichnete Laufbahn Sorgen bereitet? Ein Mensch, der Mammut-Jacken kategorisch kritisiert? Ein Mensch, der am Sonntag lieber dem Techno huldigt und sich dafür bei niemandem erklären oder gar entschuldigen will? Dieser Mensch hat es dem Anschein nach leichter im grossen B als im kleinen B. Umgekehrt bietet natürlich das kleine B ebenfalls besondere Vorzüge, deren Diskussion jedoch nicht Gegenstand dieser Zeilen sind.

So ist denn ein ganz wesentliches Qualitätsmerkmal einer modernen westlichen Stadt der in ihr verfügbare Freiraum. Ein Freiraum, der nicht nur die räumliche Dimension umfasst, sondern in erster Linie eine "sozio-psychische" Dimension.

Nun muss ich zwecks der Vermeidung unseliger Missverständnisse anfügen, dass ich das bürgerliche Leben wiederum nicht zu verteufeln gedenke. Mögen zum Beweise dessen die folgenden Fotografien des gestrigen Tages gereichen; Fotografien, die "une journée bourgeoise et gracieuse" dokumentieren. Dazu gehören distinguierte Kleidung und ein ebensolcher Habitus, anregende Lektüre (zum Beispiel: "Thinking, Fast and Slow" von Daniel Kahnemann), der Gang in die örtliche Käserei, Rachmaninov, Speis und Trank sowie, natürlich und unverzichtbar, die gepflegte Konversation in der Nähe eines erheiternden Kaminfeuers.